Bilderbuch Ruppichteroth

Wolfgang/Walter Hess (früher Ruppichteroth, heute New York): „Aus unserer Sicht"

Von keiner jüdischen Familie aus Ruppichteroth haben wir inzwischen so viele Informationen wie von der Familie Hess, da Sohn Wolfgang/Walter Hess (geb. 1931) seine Erlebnisse - auch die in Ruppichteroth - ausführlich in seinem Buch „A Refugee's Journey, A Memoir" (310 Seiten) aufgeschrieben hat. Außerdem haben Wolfgang/Walter und seine Mutter Melitta Hess im 1986 in New York produzierten Dokumentarfilm „We were so beloved" mitgewirkt und von ihrem Leben in Ruppichteroth, der Flucht über Ecuador nach New York und von ihrem mühsamen Start und späteren Leben in New York berichtet. 
Auf den folgenden Seiten habe ich zu ausgewählten Themen die Sicht von Walter/Wolfgang Hess und seiner Mutter Melitta Hess sowie von Ilse Kaufmann, geb. Gärtner (früher wohnhaft in der Wilhelmstraße) wiedergeben. Die von mir aus dem Englischen übersetzten Aussagen stammen entweder aus dem Buch von Wolfgang/Walter Hess „A Refugee's Journey, A Memoir" oder aus dem Film „We were so beloved".

Wolfgang Eilmes, Feb. 2020

Wie konnte „das alles“ auch in Ruppichteroth passieren?

Ilse Kaufmann, geb. Gärtner: „Mein Vater war so ein großzügiger Mensch und er wurde von allen geliebt. Bis die kleinen Leute des Dorfes „bigshots“ werden wollten und sofort Mitglieder der NS-Organisation wurden."

Melitta Hess: Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch ein braunes Hemd angezogen und vielleicht hätte das ganz gut ausgesehen. Um unser Leben zu retten.Wenn ein Vater Angst vor seiner Tochter oder seinem Sohn haben muss, dann wirst du wie ein Nazi handeln.“

Situation: Walter Hess schreibt im Buch, dass er nach dem Krieg als Kind oft keine Lust hatte, die care-Pakete in New York für die früheren Ruppichterother Nachbarn zur Post zu bringen.
Walter Hess: „Mama sagte dann immer: wenn es nicht einige gute Deutsche gegeben hätte, würdest du nicht mehr am Leben sein. Wenn Hitler gegen Fahrradfahrer gewesen wäre anstelle von Juden, dann hättest du auch die schöne braune Uniform angezogen und wärest mit Ihnen marschiert.“

Der Tag des Synagogenbrandes, 10.11.1938

Melitta Hess: „Als das Feuer brannte, haben sie uns - mich, die drei Kinder und meine Schwiegermutter vor die brennende Synagoge gestellt. Einige von ihnen riefen: „Verbrennt sie, tötet sie.“ "
Walter Hess: „Es war die Möglichkeit für einen Schnappschuss. Sie haben uns vor die brennende Synagoge gestellt und Fotos gemacht. ...
Ich muss sagen, dass ich viele Leute in der Menge gesehen habe, die aus dem Dorf waren. Da waren Kinder, von denen ich dachte, sie wären meine Freunde gewesen, die Spielkameraden von mir waren, die nun Dreckklumpen auf uns warfen. Für mich war es der traumatisierendste Tag meines Lebens. Den Ort zu sehen, den du liebst und wo du deine Wurzeln hast ... und plötzlich ist alles auf den Kopf gestellt.
Zwei SS-Männer standen hinter den Leuten und als die Blitzlichter aufleuchteten, begannen sie, uns zuzurufen: „Wartet nur, ihr werdet auch verbrennen. Wartet nur, wartet nur.“  Sie lachten und schauten sich an, als ob sie gerade einen tollen Witz gemacht hätten."
 

Fam. Hess und ihr Verhältnis zu Nachbarn, Mitbürgern in Ruppichteroth

Melitta Hess: „Mein Mann war ein wahrer Deutscher. Ich konnte ihn und den Schwiegervater nicht davon überzeugen, dass uns dies jemals passieren würde. Daher bestanden sie darauf, dass wir bleiben. Wir hatten wunderschöne Ländereien, wir hatten ein schönes Haus, wir hatten nette Freunde, sie wollten einfach nicht weggehen. 1936 hatte ich schon die Papiere, um nach Palästina zu gehen aber meinen Mann bestand darauf: Nie.

Opa und mein Mann waren sehr ehrliche Leute. Sie halfen den kleinen Landwirten in der Nachbarschaft, ihr Geschäft zu starten. Sie gaben ihnen eine Kuh oder sie gaben ihnen zwei … Sie konnten das Geld langsam zurück bezahlen. Oskar hatte einen sehr guten Ruf in der gesamten Gegend und die Freunde waren alle sehr nett. Mein Mann war im Fußballklub und er war im Kegelclub. Als er im KZ war und dann in Holland, brachten die Leute abends Lebensmittel für mich und die Kinder. Sie stellten sie an die Hintertür, so dass wir etwas zu essen hatten. Die Christen, die Landwirte, Freunde die dort wohnten. Und die Nonnen.“

„Vergeben Sie den Deutschen für das, was Sie Ihnen angetan haben?"

Melitta Hess: „ja … Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch ein braunes Hemd angezogen und vielleicht hätte das ganz gut ausgesehen. Um unser Leben zu retten.

Wenn ein Vater Angst vor seiner Tochter oder seinem Sohn haben muss, dann wirst du wie ein Nazi handeln. Im Inneren aber nicht. Ich kann das verstehen. Aber sie hätten nicht töten müssen und all das andere.“

Walter Hess: „Im Innern hört sich gut an, aber es hilft niemandem.“

Melitta Hess:„Wolfgang, es war zu spät. Wir haben alle geschlafen. Deshalb wurden die Nazis so stark.“

Walter Hess: „Haben die Juden auch Fehler gemacht?“

Melitta Hess: „Sicher. Es gab sehr reiche Juden und sie haben den Sozialdemokraten nicht geholfen. Sie hatten Angst. Sie halfen den Kapitalisten, den Nazis. Sie dachten, sie wären dann auf der sicheren Seite.“

„Was war das Schlimmste für Sie?"

Walter Hess: „Ich denke, das Schlimmste, was die Nazis mir angetan haben ist, dass ich mich selber gehasst habe - für eine lange Zeit. Ich habe immer unter einer gewissen Last gelebt und wusste nicht, was die Ursache hierfür war. Und ich glaube, als Kind kam ich zu dem Schluss, dass wir vielleicht nicht so gut waren …. Dass ich vielleicht nicht so gut war.

Und noch eine andere Sache:
das andere, was ich Ihnen nicht vergeben kann, ist die Art und Weise, wie sie mich meine Eltern sehen ließen, zumindest für die längste Zeit wie ich fürchte: schwach, uneffektiv … Wobei sie tatsächlich unglaublich starke Menschen waren."

Über den Versuch, die Eltern Hess aus Ruppichteroth nach New York zu holen

Die Verwandten von Melitta Hess konnten sich nach New York retten.

Walter Hess:„Aber es gab ja auch noch eine andere Oma und einen Opa, die noch in Deutschland waren.“ … Ich glaube, dass Papa es nie aufgegeben hat, zu versuchen seine Eltern aus Deutschland heraus zu bekommen. …

Eines Tages kam ein Brief, der es plötzlich möglich erscheinen ließ, dass Opa und Oma aus Deutschland gerettet werden könnten:
Wir brauchten ganz schnell eine eidesstattliche Erklärung und 1000 $.  …

Tante Irma hatte die eidesstattliche Erklärung  für uns unterschrieben, aber sie war nicht begeistert, eine weitere für eine weitere Gruppe von alten Leuten zu unterschreiben. Ja, sagte sie, wenn niemand sonst da ist, der das machen kann, o. k. dann werde ich es machen, aber ihr müsst andere zuerst fragen.

Für die Aufgabe 1000 $ aufzutreiben bei einem Lohn von 8 Dollar die Stunde beziehungsweise 0,25 € pro Stunde könnte man genauso gut von Millionen sprechen. Trotzdem versuchten es meine Eltern.“

Sie beschlossen Onkel Albert zu schreiben, ihm die Situation zu erklären und ihn um 500 $ zu bitten. (Anm.: Albert Hess war schon vor einigen Jahren nach Kitchener in Kanada ausgewandert und hatte dort eine  - wie er selbst schrieb -,  recht gutgehende Tierarztpraxis).

„Onkel Albert schrieb zurück: Habt ihr eine Ahnung wie viel 500 $ sind?“ (und überwies kein Geld).

Wolfgang wird zu Cesar - „Es fühlte sich so an, als hätte ich keinen Namen“

Walter Hess: „In der Schule nannten Sie mich Cesar. Eines Tages beschloss der Lehrer, dass Wolfgang nicht in den Mund von anderen Kindern passte. Daher fragte er die mit Schüler: wie sollen wir unseren neuen Mitschüler nennen? Jeder schrie irgendetwas, für mich hörte sich das meist an wie Hermann. Hermann war für mich der am wenigsten nette Name. Ich hatte einen Onkel mit diesem Namen der fett war und  der nie etwas mitbrachte, wenn er im Sommer für eine Woche zu uns kam. Der Junge hinter mir, Gino der mir mit Spanisch half, rief Cesar und dann rief jeder Cesar, Cesar, Cesar.

Ab jetzt war ich Cesar, aber ich fühlte mich nicht wie der Eroberer, der Feldherr. Der Feldherr, der Eroberer hatte nie Angst, aber wir waren immer ängstlich: mein Vater und meine Mutter waren ängstlich, auch wenn meine Mutter über die Nazis fluchte. Wir waren ohne Grund von einem Ort weggelaufen, wo ich der beste in der Klasse war und wo Oma mir Schokolade aus dem Geschäft gab und nun waren wir in einem neuen Land und ich musste ruhig sein und tun, was meine Eltern sagten oder nicht sagten. Es gab viel zu viel, was ich nicht wusste und ich fühlte mich blöde mit Cesar, zu viel was ich lernen musste zu viel wofür ich in der Schuld von anderen war.

Wolfgang passte auch nicht mehr. Dieser Name gehörte, wie ich wusste, irgendwo anders hin. Kein Name passte. Ich wusste den Namen von jedem anderen, aber niemand wusste wirklich meinen Namen, weder meine Freunde in der Schule noch meine Eltern. Es fühlte sich so an, als hätte ich keinen Namen. Aber ich lächelte und tat so, als wäre ich ein dankbarer Gast.“

Erneuter Namenswechsel, diesmal in New York: Wolfgang > Walter

Walter Hess: „Nach etwa vier Monaten war ich einigermaßen fließend in Englisch. Dann kam ein neuer Namenswechsel: meine neuen Freunde John, Harmon, Don Seralls, Josh Dickens, Jack Williams, also alle die, mit denen ich auf dem Schulhof Handball spielte, egal ob sie von der Edgecombe Avenue oder vom Broadway kamen, hatten Schwierigkeiten meinen Namen auszusprechen. Manchmal war es Wolf, oder Woolie oder Gang oder Woolgang.

Etwas später im Schuljahr bin ich dann zu meiner Lehrerin gegangen und habe ihr mitgeteilt, dass von jetzt an mein Name nicht mehr Wolfgang sei, sondern Walter.

Auch wenn dein Name in der Schule Kartei noch Wolfgang ist? Ist das offiziell geändert worden?

Nein. Ja, wirklich. Bitte.

Vor meiner Klasse sagte Frau Rubin dann: wir wollen diese Person nicht mehr mit seinem richtigen Namen nennen. Von jetzt an hat er einen Alias und wir werden ihn alle mit seinem neuen Alias nennen: Walter.“

 

Wird fortgesetzt.