Als „Arisierung“ oder „Entjudung“ bezeichneten die Nationalsozialisten die Verdrängung von Juden aus dem Geschäftsleben sowie aus ihren Häusern und Wohnungen im Sinne der Nürnberger Rassengesetze (15.9.1935). Formal wurde die Übernahme von jüdischen Geschäften und Häusern/Wohnungen als
„Nachdem im Dezember 1938 die „rechtlichen“ Voraussetzungen zur Einziehung des land- und forstwirtschaftlichen Besitzes von Juden geschaffen und nachdem bis Mitte 1939 die Ermittlungen darüber weitgehend abgeschlossen waren, welchen Juden welcher Besitz gehörte, wurden die jeweiligen Besitzer … von den Behörden zum Verkauf aufgefordert. Mit der schriftlichen Aufforderung war die Auflage verbunden, den Besitz innerhalb einer kurzen Frist – zumeist handelte es sich um vier Wochen – zu veräußern.“
Für die „Arisierung“ waren das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und das Reichsforstamt verantwortlich, die die Umsetzung vor Ort oft auf sog. Siedlungsgesellschaften übertrugen. Dies war für die Rheinprovinz und damit auch für den Siegkreis die Rheinische Heim GmbH, Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft für die Rheinprovinz. (aus: Angela Verse-Hermann, 1997)
Oft übergaben die jüdischen Bewohner ihre beweglichen Güter an ihnen wohlgesonnene Nachbarn mit der Bitte um Aufbewahrung und in der Hoffnung, dass sie diese nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wieder zurückerhalten würden. Wir wissen heute, dass viele jüdische Personen das Ende des Nationalsozialismus gar nicht mehr erlebten. Die wenigen Überlebenden haben in manchen Fällen dann tatsächlich zumindest einige der ihnen gehörenden beweglichen Güter zurückerhalten (z. B. Porzellan).
Viele jüdische Bürger verkauften jedoch, wenn noch möglich, auf privater Basis – sogenannte Notverkäufe -, um das Geld für eine geplante Auswanderung zusammenzubekommen.
Am Beispiel des Hauses Hess und der dazugehörigen landwirtschaftlichen Flächen möchte ich aufzeigen, wie die oben beschriebene „Arisierung“ in Ruppichteroth durchgeführt wurde.
Als erstes musste nun festgestellt werden, welchen Landbesitz die Juden überhaupt hatten, da die Religionszugehörigkeit in den entsprechenden Landkarten nicht festgehalten wurde.
15.12.1938: Auf Basis einer Verfügung v. 1.12.1938 stellte der Landrat am 15.12.1938 folgenden jüdischen Landbesitz in Ruppichteroth fest:
Gustav u. Simon Gärtner | 3,10 ha |
Jakob Gärtner | 0,98 ha |
Irene u. Käthe Gärtner | 0,20 ha |
Max Isaak | 0,12 ha |
Dr. Albert Hess | 1,29 ha |
Moses Hess | 3,38 ha |
Wwe. Wilhelm Marx | 0,73 ha |
Julius und Walter Nathan | 2,39 ha |
Lina Gärtner | 0,03 ha |
Nach dieser Aufstellung besaßen die jüdischen Familien Ende 1938 in Ruppichteroth 12,22 ha Land.
10.2.1939:
Der Oberpräsident der Rheinprovinz: „Die Siedlungsgesellschaft „Rheinisches Heim“ in Bonn hat den Auftrag, den in einzelnen Landkreisen liegenden landwirtschaftlichen jüdischen Grundbesitz auf einer Karte darzustellen zwecks späterer einheitlicher Lenkung."
18.7.1939
Für den 18.7.1939 lud das Kulturamt Siegburg ein zur Prüfung der Frage der Verwertung der jüdischen Ländereien im Siegkreis.
In Ruppichteroth fand die Prüfung an diesem Tage von 15:10 – 16:10 statt. Man ging von einer Fläche von 13,09 ha in jüdischem Besitz aus. (Anm.: der Unterschied zu den o.a.12,22 ha ist nach Aktenlage nicht nachvollziehbar)
Im Schreiben des Rechtsanwaltes Wimpfheimer (Kitchener, Kanada), der den Wiedergutmachungsanspruch für die Fam. Hess geltend machte, erfahren wir, dass „der Verfolgte Moses Hess das Viehgeschaeft im Jahre 1930 an seinen Sohn Oscar Hess uebergeben hat. Die Eltern haben dann im Haus Wilhelmstr. 7, um von den Kindern unabhaengig zu sein, ein Kolonialwaren- und Gemuesegeschaeft eroeffnet, dass sie bis Ende 1938 so gut es ging, betrieben haben. Ende 1938 musste der Geschaeftsbetrieb infolge der Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben eingestellt werden.“ (20.6.1957)
Nach einem 5-wöchigen Aufenthalt im KZ Dachau (15.11. – 23.12.1938) und der danach möglichen Rückkehr nach Ruppichteroth, verließ Oscar Hess Ruppichteroth am 12.1.1939 für immer über Holland nach Ecuador und später nach New York. Mutter und Kinder folgten ihm am 2.7.1939. Vor ihrer Flucht hatten sie ihre Kücheneinrichtung für 25 RM verkauft.
Während sich die Familie Moses Hess auf der Flucht in eine mehr als ungewisse Zukunft befand (immer in der Hoffnung, dass sie als Endziel New York erreichen würden), wurde das Haus Hess „arisiert“. Die Vorbereitungen hierzu waren in den zurückliegenden Monaten getroffen worden. Eine Mitwirkung der Fam. Hess war wohl weder beabsichtigt noch möglich.
25.7.1940:
Beantragung der Zwangsversteigerung der Grundstücke von Moses Hess durch die Spar- und Darlehenskasse Ruppichteroth eGmbH in Schönenberg
Verhandelt werden sollte die Versteigerung der Flächen
Ruppichteroth Band 35 Blatt 1387
Ruppichteroth Band 35 Blatt 1388
Ruppichteroth Band 42 Blatt 1587
Velken Band 28 Blatt 1066
wegen eines Anspruchs von 5000 RM nebst 5% Zinsen
30.7.1940:
Das Amtsgericht Eitorf hebt den für den 8.8.1940 angesetzten Zwangsversteigerungstermin auf. „Das Verfahren wird einstweilen eingestellt.“
Für den Kauf von Haus, Wirtschaftsgebäuden und landwirtschaftlichen Grundstücken hatten sich beworben:
5.3.1941
Schreiben des Landrats: „Der Amtsbürgermeister in Schönenberg beabsichtigt, die landwirtschaftlichen Grundstücke des Juden Albert Hess in Ruppichteroth für einen beabsichtigten Schulbau zu erwerben.“
22.4.1941:
Der Landrat teilt mit, dass „Löbach bereit ist auf die Grundstücke zugunsten der Gemeinde zu verzichten.“
26.4.1941:
Die Siedlungsgesellschaft „Rheinisches Heim“ teilt mit:
„Betr.: Vergabe des früheren jüdischen Besitzes Hess in Ruppichteroth
… In der Zwischenzeit wurden auch der Ortsgruppenleiter, der Amtsbürgermeister und andere Herren bei uns vorstellig für die Verteilung von Haus und Land. …“
29.4.1941: Die Rheinische Heim GmbH, Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft für die Rheinprovinz, teilt mit:
„Im Arisierungsverfahren haben wir Haus und Land des Juden Dr. Hess in Ruppichteroth angekauft,. Es soll festgelegt werden, an welche Bewerber das Besitztum abgegeben werden soll.“
Es erfolgte eine Einladung zu einem Termin im Hause Hess am 14. Mai 1941.
(Anm.: Im Schreiben vom 5.3.1941 ist erstmals nicht mehr vom Haus Moses Hess oder Oscar Hess die Rede sondern von Albert Hess. Dr. Albert Hess ist der Sohn von Moses Hess, der Bruder von Oscar. Er wurde am 31.10.1898 in Ruppichteroth geboren, praktizierte als Tierarzt und lebte mit seiner Familie(Frau Maria Katharina Müller und den Johann Gerhard (geb. 14.11.1926), Karl Heinz Albert (geb. 21.4.1928) in Hannover. Beide Kinder sind in Hannover geboren. Dr. Albert Hess wanderte mit seiner Familie 1937 nach Kitchener/Ontario/Kanada aus und war dort als Tierarzt tätig. Er starb dort am 9.9.1983 im Alter von 84 Jahren. Auch die Meldeunterlagen in Ruppichteroth oder das Adressbuch verzeichnen Albert Hess nicht als in diesen Jahren (1930 ff.) in Ruppichteroth ansässig.
Es gibt keine Unterlagen, die belegen, dass er jemals der Besitzer des Hauses Hess in der Wilhelmstraße war, wie im Schreiben oben dargelegt wurde. In einer E-Mail v. 11.2. 2019 bestätigt Walter Hess, dass Albert Hess als Erwachsener nicht in Ruppichteroth, sondern in Hannover gewohnt hat („I believe that they lived in Hannover, In my time I don't have any memory of their being in Rupp.”).
Es ist daher anzunehmen, dass er stellvertretend für seinen geflohenen bzw. sich noch auf der Flucht befindlichen Bruder Oscar Hess sich um den Ruppichterother Besitz der Familie kümmerte bzw. die „Arisierung“ (= Übertragung des Besitzes an arische Bürger) von Kanada aus begleitete.
Auch verfügte Oscar Hess bei Ankunft in New York nach Aussagen seines Sohnes Wolfgang/Walter kaum über finanzielle Mittel zur Bezahlung eines Rechtsanwaltes:„We were desperately poor." Oscar Hess „started at $ 8 per week." (Walter Hess)
Schreiben des Landrats vom 14.5.1941: „Der Verwaltungsangestellte Pütz hat den Termin in dem Arisierungsverfahren des Juden Dr. Hess in Ruppichteroth am 14. d. Mts. wahrgenommen.Neben Vertretern des Oberpräsidiums in Koblenz, Kulturamt Siegburg, Kreisbauernschaft Siegburg, Rhein. Heim GmbH Bonn nahmen aus Ruppichteroth teil:
Ortsgruppenleiter Schmidt, Millerscheid, gleichzeitig als Vertreter des Kreisleiters der NSDAP in Siegburg,
Amtsbeigeordneter Altwicker, als Vertreter des Amtsbürgermeisters in Schönenberg
Es wurde, wie von der hiesigen Stelle auch mit Schreiben vom 22..4. 1941 dem Rheinischen Heim in Bonn vorgeschlagen, beschlossen
a) das Hausgrundstück mit einer Hofraumfläche von rund 22 ar dem Installateur Löbach
und
b) den übrigen Grundbesitz von rund 1 ha der Gemeinde Ruppichteroth zu übereignen.
Der Preis zu a) wurde auf 11.000.- RM abzüglich 700.- RM für vom dem Installateur Löbach geleistete Vorarbeiten = 10.3000 RM festgesetzt
zu b) wurde ein Kaufpreis von 1.400 RM vereinbart.“
Die Fam. Hess erhielt also für den o.a. Landbesitz (3,9 ha) in Ruppichteroth sowie für Haus und Wirtschaftsgebäude und Hausgrundstück mit Hofraumfläche (22ar) 10.300 +1.400 = 11.700 RM.
Wieso der Landrat von 1 ha Grundbesitz spricht, während 1938 (s.o.) 3,9 ha festgestellt wurden, ist aus den Akten nicht ersichtlich.
Der Landrat beendet das Schreiben mit der klaren Aussage:
„Die Angelegenheit hat damit für die hiesige Stelle ihre Erledigung gefunden.
Zu den Akten.“
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Literatur:
Akten im Archiv des Rhein-Sieg-Kreises ARSK, SK, Nr. 3159 und 5051
Die „Arisierungen“ in der Land- und Forstwirtschaft 1938 – 1942, Angela Verse-Hermann VSWG Beihefte 131, Stuttgart 1997, S.73 und 83
Wolfgang Eilmes, Familie Hess, in Bilderbuch Ruppichteroth Band 2, 2018, S. 133
Walter Hess, A Refugee's Journey: A Memoir, New York