Bilderbuch Ruppichteroth

Das ehem. Haus Nathan / ehem. Haus Pach

Der Bericht auf broeltal.de vom 12.12.2020 über die erneut wunderschönen, künstlerisch gestalteten Weihnachtskugeln von Erik Pauly hat den Autor dieser Zeilen motiviert, zusätzlich zu der dort dargestellten Geschichte des Hauses noch einen Aspekt zu ergänzen: die Geschichte über die Erbauerfamilie und deren Schicksal.
To the ENGLISH Version for our English-speaking readers

Für diejenigen, die es gern kurz haben:

Das Haus wurde ca. 1900 von der jüdischen Familie Nathan erbaut, deren Vorfahren seit 1846 in Ruppichteroth lebten. Von den 5 Personen der Familie Nathan, die zwischen 1939 und 1941 noch hier wohnten,  wurden 4 von den Nazis ermordet, eine Person konnte sich durch die Flucht nach Palästina retten.

Und hier die Geschichte im Detail:

Hierbei muss vorab gesagt werden, dass die Geschichte im Vergleich zu früheren Informationen (auch auf bilderbuch-ruppichteroth.de) aufgrund neuer Recherchen an wenigen Stellen zum Teil revidiert werden muss:
Das Haus wurde zwischen 1870 und 1900 von der jüdischen Familie Nathan erbaut. Die Nathans waren Metzger, Viehhändler und Landwirte. Die Wirtschaftsgebäude befanden sich hinter dem Haus. Der vordere Teil wurde als Wohnhaus genutzt.
Anders als gelegentlich berichtet (zuletzt noch in einem Artikel einer lokalen Tageszeitung im Jahre 2019), liegt der Ursprung des Ortes Ruppichteroth nicht an der Brölstraße, sondern im Oberdorf zwischen den beiden Kirchen. Viele Orte im Bröltal sind „auf der Höhe“ entstanden (u.a. Schönenberg, Benroth, Berkenroth), weil die Bröltalauen oft überflutet waren. In den ohnehin schwierigen Zeiten der Vergangenheit konnte man so zumindest das Problem der Überschwemmungen und daraus resultierender Krankheiten vermeiden.
Hinzu kommt, dass die Brölstraße erst 1862 entstand, der Abschnitt bis nach Ruppichteroth wurde am 15.9.1862 eingeweiht. Bis dahin führte der Weg nach Hennef oder Waldbröl (aber wer wollte damals auch schon dorthin? Und wozu?) über die Nutscheid, wobei der Weg bei schlechtem Wetter oft nicht nutzbar war.

Ruppichteroth 1861 oder 1862 - noch ohne das Haus Nathan

Das Bild oben  - in verschiedenen Publikationen immer wieder auf das Jahr „ca. 1895“ datiert – zeigt die damals noch fast unbebaute Brölstraße ohne das Haus Nathan. Bei Vergrößerung des Bildes erkennt man, dass die Schienen für die im Juni 1863 eröffnete Bröltalbahnstrecke hier noch nicht verlegt worden sind. Das korrekte Datum dieser Bilder ist wohl ca. 1861. Lothar Willach hat für seine Recherchen zum sog. Ispert-Haus den verstorbenen ehemaligen  Besitzer des Hotels zur Krone, Helmut Zimmermann, befragt. Helmut Zimmermann hat erzählt, dass das Hotel zur Krone als Bahnhofshotel von Anton Heider erbaut worden ist. Dies war belegt durch einen Stein am Sockel des Hauses mit der Inschrift „Heider 1860“. Anton Heider war ein weitsichtiger Geschäftsmann: als er Jahre vorher vom geplanten Bau der Brölstraße und der Bröltalbahn erfuhr, baute er schon vorab 1860 ein Haus mit Hotel und später auch mit Kegelbahn neben dem Bahnhof. Das Bild stammt also von nach 1860 und vor 1863.

Das Haus Nathan aus verschiedenen Perspektiven
Die Familie Nathan

Detaillierte Informationen haben wir über den letzten Besitzer, Julius Nathan, der von den Nazis ermordet wurde.
Seine Vorfahren stammen aus Niederelben (damals Gemeinde Marienberghausen). Sein Großvater Nathan Nathan wurde dort am 28.04.1814 als Sohn des Metzger Josef Nathan geboren. 1846 heiratete er Caroline Kahn aus Ruppichteroth und ließ sich hier als Manufakturwarenhändler und Metzger nieder.
Dessen Sohn Jacob, (geb. am 25.02.1850 in Ruppichteroth, hier verstorben am 06.07.1935)   heiratete am 23.08.1875 Helena Strauß aus Dierdorf (geb. 22.09.1847 in Dierdorf, gest. 02.07.1924 in Ruppichteroth)
Es ist daher anzunehmen, dass der Bauherr des zwischen 1870 und 1900 errichteten Hauses wahrscheinlich Jacob Nathan (er war 1900 50 Jahre alt) war, möglicherweise, aber weniger wahrscheinlich, könnte es auch sein 1900 24 Jahre alter Sohn Julius gewesen sein.

Der letzte jüdische Besitzer: Julius Nathan – die letzte jüdische Familie

Julius war der Sohn von Jacob und Helena Nathan. Er wurde geb. am 07.08.1876 in Ruppichteroth und war von Beruf Viehhändler. Seine Frau  Ida (geb. am 09.06.1877) verstarb am 10.12.1936 in Köln-Ehrenfeld.

Julius und Ida Nathan hatten 2 Kinder:
 

Sohn Walter Nathan, geb. am 24.05.1905 in Ruppichteroth, heiratete am 27.01.1937 die am 4.11.1908 geborene Ise Stiebel.
Tochter Gertie Nathan, geb. am 30.11.1906 in Ruppichteroth, heiratete 1930 den in Schweinfurt geborenen Max Hahn.  

Walter und Ilse hatten 2 Kinder:
Sohn Rolf Josef  (geb. 24.11.1937) und Tochter Chana (Hanna, geb. 11.04.1939)

Eine wohlhabende Familie

Die Nathans waren eine wohlhabende Familie. Nicht nur die Größe des Hauses, das Erdgeschoß in Bruchsteinmauerwerk, dahinter Ziegelsteinmauern, 2 Obergeschosse im kunstvollen Fachwerkstil, große Fenster mit Rundbogen, auf der Rückseite sogar aus roten Klinkern sondern auch die links im Bild  ersichtliche Abgrenzung zur Straße durch Schmiedegitter und Säulen sowie der neben dem Haus gelegene große Garten machten Haus und Grundstück zu einer der schönsten Anlagen in Ruppichteroth. Die hinter dem Haus gelegenen Wirtschaftsgebäude sorgten für den hier zu erkennenden Wohlstand. Erst durch Recherchen im Jahre 2019 wurde bekannt, dass die Nazis auch ein Auto (einen Opel P4), den in Ruppichteroth ansonsten nur die beiden Kaufleute Walter Schumacher und Josef Schorn, der Zahnarzt Dr. Wilhelm Ritter und der Hotelier Albert Zimmermann fuhren, beschlagnahmten. Es ist also sehr offensichtlich, dass die Fam. Nathan zu den wohlhabendsten Familien in Ruppichteroth gehörten.
 

Hans Ottersbach (Schönenberg) über die Familie Nathan:

Hans Ottersbach aus Schönenberg (1922-2010) berichtet in einem Interview mit seinem Enkel Nicolas (broeltal.de) im November 2008:

Ich komme aus einer gläubigen Familie. In meinem Elternhaus war es an der Tagesordnung, dass jeder Mensch, woher er auch kam, welchen Glauben er auch hatte, mit Respekt behandelt wurde. Das erste Mal, dass ich bewusst damit konfrontiert wurde, dass irgendetwas mit den jüdischen Mitbürgern „im Gange“ war, war im Januar 1935. Ich reiste mit meiner Mutter Maria Ottersbach - gebürtige Saarländerin -  zur Saarabstimmung. Die jüdische Familie Nathan, die im heutigen Haus von Dr. Pach wohnte, bat uns, ein Paket nach Lothringen zu Verwandten mitzunehmen, um ein paar Dinge in Sicherheit zu bringen. Meine Mutter und ich wussten nicht, was in dem Paket war. Es war selbstverständlich, dass wir diese Bitte erfüllten. Wir kannten die Nathans gut und lebten mit ihnen in freundschaftlicher Gemeinschaft zusammen, wie viele Ruppichterother auch. Dass sie jüdischen Glaubens waren interessierte die meisten damals nicht...

Schicksale der Familie Nathan

Julius Nathan wurde am 18.6.1941 ins Lager Much eingeliefert und am 18.7.1942 nach Köln, Messehalle, deportiert. Auf der Fahrt ins KZ  Weimar-Buchenwald wurde Julius N. im Jahr 1942 im Alter von 66 Jahren „auf der Flucht erschossen“. Sein Tod wurde an die „Kommandatur  des K.L. Buchenwald“ wie folgt gemeldet: „Der pol. Jude Julius Israel Nathan, geb. am 7.8.1876 in Ruppichteroth/Rhld. wurde heute um 7:35 auf der Flucht erschossen“. (Quelle: www.fold3.com/image/232100311)
Heinrich Schöpe (früher wohnhaft in Velken, heute in Bonn), der für bilderbuch-ruppichteroth.de zahlreiche Stationen seines Lebens während der Nazi-Zeit ausführlich beschrieben hat, kannte Julius Nathan über seinen Vater persönlich. Für bilderbuch-ruppichteroth.de schreibt Heinrich Schöpe: „Mein Vater hat gerade mit Julius Nathan wiederholt faire Viehkauf-Geschäfte gemacht. Das geschah damals per Handschlag. Solange die Juden noch nicht verfolgt wurden, fand 14-tägig in Waldbröl ein reger Viehmarkt statt, der danach aber stark abflaute. Meine Mutter meinte einmal: „Mit den Juden hast Du bessere Geschäfte gemacht“. Eines Tages kam Nathan zu meinem Vater und sagte zu ihm - ich war zufällig zugegen - : „Ja, Karl jetzt sehen wir uns zum letzten Mal“. Ein trauriger Abschied! Weil Nathan sich bald als renitent und sicherlich auch aufwieglerisch in der Gruppe verhalten hat, wurde er bald aussortiert und nicht mit der Gruppe weitergeschickt, sondern kam ins KZ Buchenwald, wo er erschossen wurde. Schrecklich, wie die Nazis mit Juden und anderen, ihnen nicht wohlgesonnenen Menschen umgegangen sind“ (email v. 08.03.2017).

Walter Nathan zog - wie auch andere jüdische Mitbürger aus Ruppichteroth, wohl in Vorausahnung der kommenden Geschehnisse - am 11.04.1939 mit seiner Familie nach Köln.
Dort wurde die Familie getrennt.
Nach der sog. „Kristallnacht“ (10.11.1938) war Walter Nathan vom 15. – 28.11.1938 in Dachau inhaftiert. Nach der Entlassung erhielt er die Erlaubnis Deutschland verlassen. Er starb 1970 in Israel.
Mutter Ilse und die drei Monate alte Tochter Chan (Hanna) wurden nach Köln Ehrenfeld, Gutenbergstraße 66, eingewiesen. Mutter und Kind starben im KZ.
Sohn Rolf Josef kam  im Alter von anderthalb Jahren am 11.04.1939 in das Kölner Kinderheim Lützowstrasse. Er wurde am 07.12.1941 deportiert und in der Tötungsstätte Minsk Maly Trostinec getötet.

Walters Schwager Max Hahn wurde am 07.12.1943 ins KZ Auschwitz eingeliefert. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Seine Frau Gertie - Walters Schwester - konnte sich durch Flucht nach England retten.

Die weitere Geschichte des Hauses der Familie Nathan

Nach der Vertreibung der Familien durch die Nazis (oft auch als „Arisierung“ oder „Entjudung“ bezeichnet), manchmal sogar vor der Vertreibung, wurden die  jüdischen Besitzer enteignet und Haus und Hof sowie die hierzu gehörigen Gegenstände schnellstmöglich zu einem oft weit unter dem tatsächlichen Wert liegenden Preis – in Ruppichteroth oft mit Hilfe der „Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft für die Rheinprovinz“- an die neuen Besitzer übergeben. Manchmal verkauften die jüdischen Besitzer in ihrer Not auch selbst an interessierte Dorfbewohner, insbesondere um dadurch das notwendige Geld für die Ausreise (Ziel war meist USA) zu erhalten.
Für das frühere Haus Hess (Wilhelmstraße) habe ich einen solchen Übergang von jüdischem Vermögen mit Hilfe der vorhandenen Akten im Detail und mit Zahlenangaben belegen können.
Für das Haus Nathan sind – noch  - keine solche Akten gesichtet worden.
Was aber bekannt ist:
Nachbar Helmut Zimmermann berichtet in seinen Memoiren („Was ich euch schon immer erzählen wollte“, 2016, im Eigenverlag), dass  schon 1939 eine Familie Schewe in das vorherige Haus Nathan einzog: „Die Familie Schewe kam 1939 nach Ruppichteroth und wohnte im Haus (jetzt Dr. Pach). Herr Schewe arbeitete in leitender Position in der Firma Gebr. Willach. Er wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen, da er Reserveoffizier war. Schewes hatten 3 Töchter.“   
Es ist nicht bekannt, wer der erste Nach-Besitzer des Hauses Nathan war und in welcher Form der Übergang stattfand.
Mehrere Zeitzeugen haben berichtet, dass Haus und Grundstück (nach Osten fast bis zur Apotheke) Anfang der 1940er Jahre von  einem Pastor Schlauder aus einem Eifelort erworben wurde, der durch seine Hausangestellte aus Ennenbach Kontakt zu Ruppichteroth hatte. Dieser Pastor war dadurch auch der Besitzer des von Elisabeth Wüllenweber betriebenen Büdchens.
Von 1944 – 2015 wurde das Haus als Arztpraxis genutzt.

  • Dr. Ohlemüller (1944-1979)
  • Dr. Pach (1979 - 2011)
  • Dr. Bartolic (2011-2015)

Die hinter dem Haus liegenden Wirtschaftsgebäude wurden nach 1945 bis Anfang der 1950er Jahre von Hans Schardt für seine Farbengroßhandlung genutzt (s. Adressbuch des Rhein-Siegkreises, Ausgabe 1950, und Information von Reinhold Altwicker). Als Telefonnummer finden wir in diesem Adressbuch die Nr. 170. Diese hatten auch die Fa. Heinz Zünder (Radio/Fernsehen), der Fahrrad- und Motorradwerkstatt Kurt Stumm, die beide im Hinterhof des Hotel zur Krone ihre Werkstätte hatten, sowie das Hotel zur Krone selbst, wo sich das Telefon nach Aussagen von Helmut Zimmermann befand. In der Praxis bedeutet das, dass bei einem eingehenden Anruf die Fam. Zimmermann zum jeweils angerufenen gehen und ihn ans Telefon bitten musste, im Falle von Hans Schardt sogar auf die andere Seite der Brölstraße.
Bis in die 70er Jahre (oder noch länger ?) wohnte im Obergeschoss die Familie Kummer, die auch den Garten zwischen Haus und Büdchen nutzte und pflegte.

2017: Der Abriss des Hauses

Im Dezember 2017 wurde das Haus abgerissen, weil sich eine Renovierung des über Jahrzehnte marodierenden Hauses wohl nicht rechnete.

Heute befindet sich hier eine Geschäftsstelle der VR-Bank Rhein-Sieg.

Stolpersteine

Am 1.8.2019 wurden vor dem Neubau 5 Stolpersteine verlegt:

 

Quellen: bilderbuch-ruppichteroth.de, Karl Schröder,  Die Juden in Eitorf und Ruppichteroth, 1974
Bilder: Archiv Alois Müller, Helmut Zimmermann, Wolfgang Eilmes