Bilderbuch Ruppichteroth

Erlebnisse zum Kriegsende

Die folgenden Ausführungen stammen aus der zweibändigen Arbeit von Herbert Hohn "Die Geschichte des Hofes "Thal" und seiner Bewohner" aus dem Jahre 1975.
bilderbuch-ruppichteroth.de darf diese Texte hier mit freundlicher Genehmigung von Rosi Hohn widergeben. Vielen Dank.
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Anfang 1945: der Krieg war schon verloren, aber die Kämpfe gingen weiter

Der Krieg ging weiter, obwohl die Deutschen der Materialüberlegenheit der Alliierten in keiner Weise mehr gewachsen waren.
Eines Tages, Anfang 1945, kam noch mal ein deutscher Munitionswagen, ein gepanzertes Spezialfahrzeug, von Schönenberg hoch und fuhr in Richtung Eitorf. Oberhalb von Kammerich, in dem kleinen Wäldchen gegenüber dem Aussiedlungshof Vogelheim, der damals natürlich noch nicht existierte, griff ein feindlicher Tiefflieger das Fahrzeug an. Im Tiefstflug raste die Maschine dabei auch einige Male über Thal. Wir hörten deutlich das Häm¬mern der Bordwaffen und schließlich eine ohrenbetäubende Explosion. Das Fahrzeug war getroffen und wurde natürlich von der eigenen Ladung in tausend Stücke zerfetzt. Das Wrack hat noch lange nach dem Krieg an der Wingenbacher Straße gelegen. An eine Wende des Krieges glaubte wohl längst keiner mehr, und es war schon eine kleine Sensation, als in den letzten Kriegsmonaten noch einmal ein deutsches Jagdflugzeug über Thal dahinhuschte. Ansonsten sahen wir täglich ausschließlich Feindverbände in Richtung Osten fliegen. Dann war der Himmel von monotonem Motorengebrumm erfüllt. Die Bomber flogen meist in großer Höhe und man sah bei flüchtigem Hinschauen nur die wie mit einem Lineal gezogenen weißen Kondensstreifen. Ganz vereinzelt bemerkten wir auch schon mal kleine weiße Sprengwölkchen am Himmel, für uns Beobachter ein Zeichen dafür, daß die Maschinen von deutscher Flak beschossen wurden. Einen Abschuß haben wir allerdings in diesen letzten Kriegsmonaten von Thal aus nicnt mehr beobachten können.
Noch ein Jahr zuvor wurden auch über unserem Gebiet des öfteren feindliche Flugzeuge, sei es von der Flak oder aber von deutschen Jägern, abgeschossen. Die Besatzungen konnten sich dann natürlich nur noch, wenn überhaupt, mit dem Fallschirm retten. So ist auch einmal ein Amerikaner oberhalb von Kammerich auf dem "Höchsten" mit seinem Fallschirm in dem alten Wildkirschbaum gelandet. Tante Stienchen hütete gerade die Kühe und stand ahnungslos unter diesem Baum. Sie muß einen ge-waltigen Schreck bekommen haben, denn sie- ist anschließend laut schreiend und blind vor Angst nach Hause gelaufen. In Kammerich befindliche Soldaten hatten natürlich auch den Landeplatz des Fallschirmes beobachtet und nahmen kurz darauf den noch immer im Baum an den Fallschirmseilen pendelnden Amerikaner gefangen. Auch auf der Happs Weide unterhalb von Fußberg, dem jetzigen Happs Camping Platz ist einmal ein Amerikaner mit seinem Fallschirm gelandet.

„Wir Kinder spielten bis zum Schluß Soldat“

Wir Kinder spielten natürlich bis zum "Schluß" Soldat und schossen mit selbstgebauten Holzgewehren auf die durchziehenden Feindverbände. Unmittelbar unterhalb der Scheune hatten wir aus einer ca. 10 cm dicken Holzstange eine "Flak" gebaut. Als Verankerung und "Kugelschütz" diente Opas alter Kultiva-tor, den wir auch "vorschriftsmäßig" mit Tannengrün getarnt hatten. Paul, Heinz und ich hockten dann hinter unserer Flak und "schossen alle Feindflugzeuge ab". Einmal ist uns allerdings bei diesem "‘Spiel" das Herz fast in die Hose gerutscht. Aus der Vogelperspektive hat unsere Flak vielleicht etwas zu echt ausgesehen, denn an besagtem Tag, als wir gerade wieder in "Gefechtsstellung" waren, löste sich plötzlich ein Begleit- jäger aus dem Verband und jagte anschließend im Tiefstflug über unser Haus dahin, ohne allerdings zu schießen. In panischer Angst haben wir unser "Geschütz" abgerissen und sind in die Scheune geflüchtet. Das große Donnerwetter unserer Eltern ließ natürlich dann auch nicht lange auf sich warten. Aus Angst vor solchen Tieffliegern wurden in Thal und Kammerich und Umgebung schon seit geraumer Zeit keine Felder mehr bestellt. Das war Opa schließlich zu dumm, und er zog mit seinem Kuhgespann zum Eggen aufs Feld an der  "Schneiders Ecke" oberhalb von Thal. Oma und Mutter versuchten verge¬blich ihn davon abzuhalten, denn auch an diesem Tag zogen wieder zahlreiche, Feindverbände in Richtung Osten. Opa schlug alle Warnungen in den Wind. Das Feld mußte bearbeitet werden.  "Und was wollen die denn schon einem alten Mann antun" waren seine einzigen Worte. - Nicht viel später jagte ein Tiefflie¬ger in höchstens 20 m Höhe von Kammerich her kommend über das Feld. Wir hörten seine Bordwaffen tackern  und sahen ihn dann nach einer Rechtskurve in Richtung Wingenbach über den Bäumen wieder verschwinden. Der ganze Spuk hatte natürlich nicht ein¬mal eine Minute gedauert, doch alle glaubten, daß es nun Opa erwischt habe. Dann sahen wir auch schon die herrenlosen Kühe mit der hinter ihnen hertorkelnden Egge in Richtung Wald laufen. Von Opa war nichts zu sehen und zu hören. Oma war einer Ohnmacht nahe und weinend, seinen Namen laut rufend, machte sie sich zusammen mit Mutter auf den Weg, um nach ihm zu sehen. Da tauchte aber Opa schon selber auf, völlig unversehrt. Er befreite noch rasch die Kühe vom Zuggeschirr und der Egge, denn letztere hatte sich bereits an den ersten Sträuchern verfangen, und kam atemlos nach Hause. Der Schrecken stand ihm noch im Gesicht, als er sein Erlebnis erzählte. Das Flugzeug sei im Tiefflug geradewegs auf ihn zugerast. Er behauptete weiter, er habe, deutlich den Piloten in seiner Kanzel sehen können. Vor Schreck sei er wie angewurzelt stehen geblieben. Dann habe die Maschine etwas seitlich abgedreht, und der Pilot habe eine Geschoßgarbe ins Feld gejagt, daß das Erdreich aufgespritzt sei. Daraufhin seien ihm die Kühe mit der Egge im Schlepp davongelaufen, und er selber habe sich erst jetzt auf die Erde geworfen. Hinterher fand er dann schnell seinen alten Humor wieder und sagte ganz trocken: "Das habe ich doch gleich gesagt, daß die einem alten Mann nichts zu Leide tun!"
Nach Opas Schilderung muß man tatsächlich annehmen, daß der Pilot absichtlich danebengeschossen hat; jedenfalls ist er von nun an, wenn Flieger am Himmel zu sehen waren, nie mehr aufs Feld gezogen. Wir Kinder haben anschließend auf besagtem Feld die aus der Maschine geschleuderten Geschoßhülsen aufgesammelt und damit gespielt.

Wo ist der Feind? Wo ist der Ami?

So ging der Krieg immer mehr seinem Ende entgegen. Da man über Rundfunk kaum etwas Genaues über den augenblicklichen Stand der Kampfhandlungen erfuhr, wußte auch keiner mit Bestimmtheit, wo zur Zeit der Feind, das hieß für unser Gebiet, der "Ami"- stand. Überall baute man sogenannte Luftschutzbunker, und die Thaler machten darin keine Ausnahme. Unterhalb der Fischweiher wurde ein 7 bis 8 m langer Stollen vom Tal aus in den Berg gegraben. Zwei an den Längsseiten grob gezimmerte
Sitzbänke und ein alter "Kanonenofen1' bildeten das einzige Mobiliar unseres Bunkers. Außerdem waren die Wände und die Decke noch mit Tannenreisig ausgeschlagen. Wirklich benutzt worden ist  der Thaler Bunker allerdings nicht, im Gegensatz zu den Bunkern, die unterhalb von Kammerich an dem Steilhang zum Kesselscheider Tal hin von der dortigen Bevölkerung ge¬baut worden waren.
Bis quasi zum letzten Tag mußte Vater seinen Dienst bei der Rhein-Sieg-Eisenbahn versehen, obwohl nach der Sprengung der Allner Brücke der Zug natürlich nur noch zwischen Allner und Waldbröl verkehren konnte. Von einem geregelten Personenverkehr konnte, verständlicherweise schon längst nicht mehr die Rede sein. So wurden auch in der Hauptsache Evakuierte und vor allen Dingen Kriegsverwundete nach Waldbröl transportiert, und zwar mußten die meisten mit einfachen Viehwaggons vorlieb¬nehmen .
Was heute die wenigsten, wissen, und was auch nicht in dem wohl ausführlichsten Buch von Willi Kissau "Die Rhein-Sieg- Eisenbahn (Bröltalbahn) 1970 über diese Schmalspurbahn erwähnt wird, ist die Tatsache, daß unmittelbar vor der Sprengung der Allner Brücke die meisten Loks noch auf die rechte Siegseite gebracht worden sind. Sie standen dann in Herrenstein in dem kurzen Waldstück, wo die Schienen von der Straße abbogen, und das durch überhängendes Astwerk von schweren Eichen vorzüglich getarnt war. Hier wurden die Loks auch in der Nacht angeheizt.
Doch nun wieder zurück nach Thal. An einem dieser letzten Kriegstage ist Leni Windscheif noch nach Ruppichteroth geschickt worden, um bei Schumachers etwas einzukaufen. Wir haben bis zum späten Nachmittag vergeblich auf ihre Rückkehr gewartet. Schließlich schickte Tante Maria ihren Sohn Josef los, um nach dem ungewöhnlich langen Verbleib seiner Schwester zu sehen. Bei Schumachers erhielt er den Bescheid, daß Leni sich nach Erledigung ihrer Einkäufe sofort wieder auf den Heimweg gemacht habe. Der Weg führte übrigens von Thal, oberhalb der Kesselscheider Weide entlang, wo das Kesselscheider  und Kämerscheider Bächlein zusammenfließen links hoch, schließlich über Buch nach Ruppichteroth. Kurz vor Dunkelwerden kam Josef dann unverrichteter Dinge wieder heim. Man kann sich sicher die Sorge und Angst von Tante Maria vorstellen, als auch am nächsten Tag noch immer keine Spur von Leni gefunden worden war; dabei hatte man bis spät in die Nacht hinein nach der so spurlos verschwundenen gesucht. Lediglich die alte Frau Krefeld, die über "hellseherische Fähigkeiten." Sie wurde übrigens diesbezüglich von vielen Leuten aufgesucht, versicherte immer wieder, Leni gehe es gut, und sie würde schon wieder auftauchen. Für Tante Maria war das verständlicherweise kaum ein Trost; sie glaubte fest an irgendein Gewaltverbrechen.
Natürlich wurde auch an diesem nächsten Tag, es war Sonntag, der 8. April 1945, weiter nach Leni gesucht.
Jeder wußte zwar, daß der "Ami" nicht mehr weit sein konnte, etwas Genaues allerdings wußte niemand.

Die ersten Amerikaner

An bereits erwähntem 8. April, Vater hatte sich noch etwas hingelegt, tauchten plötzlich am oberen Waldrand die ersten Amerikaner auf. Ein kleiner Trupp von 12 Soldaten näherte sich frei über die Weide kommend unserem Haus, Gewehre im Anschlag. In ihrer Mitte, zu unserer aller Überraschung und Freude, ging Leni, Tante Marias vermißte, Tochter.
Vater konnte natürlich schneller aus dem Bett als er hineingekommen war, und so gingen alle 21 Thaler Bewohner, Flugblätter schwenkend, das sollte, wohl ein Zeichen der Friedfertigkeit sein, den "Amis" entgegen. Freudestrahlend, mit. Tränen in den Augen, nahm Tante Maria ihre Tochter in die Arme. Frau Müller hatte noch ein wertvolles Fernglas ihres: Mannes um den Hals hängen, das natürlich als willkommene "Beute" auf der Stelle, seinen Besitzer wechselte. In dem Trupp befanden sich auch zwei Farbige, die, wir Kinder ganz besonders angegafft haben müssen, denn es war das erste... Mal, daß wir einen Menschen an¬derer Rasse sahen.
Versteckte Nazis ?
Nachdem wir alle zusammengedrängt am Backes warten mußten, wurden Haus und Scheune durchsucht. Mutter, die in allen Dingen sehr couragiert war, ging einfach mit den Soldaten ins Haus, um zu sehen, was sie dort vorhatten. Diese Durchsuchung nach eventuell versteckten Soldaten war geradezu lächerlich. Zwei Mann hockten am "Hauklotz” vor dem Holzschuppen mit schußbereiter MP, während zwei andere vorsichtig das Scheunentor einen Spalt öffneten, kurz hineinschauten, um es dann gleich wieder zuzumachen. Genauso verfuhr man mit dem Kuh- und dem Schweinestall. Wir hätten 5o und mehr Soldaten versteckt haben können, und die übervorsichtigen, um nicht zu sagen ängstlichen Amis hätten sie nicht entdeckt.
Nach dieser 'gründlichen" Hausdurchsuchung, bei der übrigens nichts angefaßt oder gar beschädigt worden ist, wurden die Männer und unsere drei Gefangenen separat vernommen. Sie zeigten abwechselnd auf jeden und fragten in gebrochenem Deutsch: "Du nix Soldat?" Dann nahmen sie die drei Gefangenen mit und verschwanden wieder im Wald.
Ungefähr zur gleichen Zeit, vielleicht eine halbe Stunde später, rückte der Ami auch in Kammerich ein.
Auf der anderen Seite, in Hambuchen, hatte ein junger deutscher Offizier noch einige Soldaten um sich geschart und  von den Amerikanern unbemerkt,  hatte der kleine deutsche Trupp hier ein Geschütz in Stellung gebracht. Als die ersten Amerikaner Kam¬merich betreten hatten, wurde nun planlos in den Ort hineingefeuert .
Wir Kinder standen gerade auf dem ’’Berg" und sahen interessiert den Einschlagswolken der krepierenden Geschosse zu. Wie gefähr¬lich das war, ist uns erst später bewußt geworden, denn ein handgroßer Splitter ist bis Thal in unsere Scheune geflogen, wo er dann in einem Balken stecken geblieben ist.
In Kammerich selbst war die Hölle los. Überall krepierten Granaten in Häusern und Ställen. Es gab Tote und Verwundete, meist allerdings "Kammericher"; lediglich ein Amerikaner wurde bei diesem Feuerüberfall so schwer verwundet, daß er wahrscheinlich gestorben ist. Unter den Schwerverwundeten war leider auch Mutters Schwester, Tante Stienchen. Ein Splitter hatte ihr einen Fuß abgeschlagen, und es fehlte in diesem Tohubawohu natürlich jede ärztliche Hilfe. Notdürftig haben Onkel Johann und Nachbarn den Fußstummel abgebunden; den Blutstrom aber haben sie nicht stillen können. Schließlich hat man die vor Schmerzen schreiende Tante Stienchen auf einen Ochsenkarren gelegt, und Onkel Johann ist mit seinem Ochsen "Fuss", Tante Stienchen auf dem harten "Romp", nach Wingenbacher Hof gezogen, wo sich ein deutscher Militärarzt befand. Warum? Niemand weiß es mit Bestimmtheit zu sagen. Jedenfalls hat er mit dem Hinweis auf seine Gefangenschaft  jede Hilfe verweigert, so daß Onkel Johann mit der Schwerverletzten unverrichteter Dinge wieder heimkehren mußte. Tante Stienchen hatte inzwischen so viel Blut verloren, daß sie unbedingt eine Bluttransfusion hätte bekommen müssen. Statt dessen lagerte man sie jetzt in Vogelheims Keller und verband aus Unkenntnis die schreckliche Wunde wieder falsch, das heißt, ohne die Schlagader abzuklemmen. Fast wahnsinnig vor Schmerzen hat Tante Stienchen zuletzt nur noch gewimmert. Nachdem die Deutschen ihre Munition verschossen hatten, haben sie das Geschützrohr gesprengt und sich anschließend zurückgezogen.
In Kammerich selbst hatte fast jedes Haus Treffer abbekommen. Auch Josef, der noch am Tage vorher seine Schwester Leni gesucht hatte, war zufällig beim Einrücken der Amerikaner in Kammerich bei Onkel Johann. Schon auf der Suche nach seiner Schwester, an der sich unser italienischer Gefangener Giuseppe ganz besonders beteiligt hatte, glaubte er am Waldrand amerikanische Soldaten bemerkt zu haben. Von Kammerich aus wollte er nun nach Wingenbacher Hof anrufen, um zu erfahren, ob der Ami bereits bis dorthin vorgedrungen sei.

"Sie kunn, sie kunn; der Ami es do!" - Die Amis in Kammerich

Wie aus heiterem Himmel tauchte dann plötzlich der Ami in Kammerich auf. Josef schildert die Situation wie folgt: "Ich stand gerade mit Stienchen und Ivan vor dem Haus, als plötzlich einige Frauen gelaufen kamen und schrien: "Sie kunn, sie kunn; der Ami es do!" Wir glaubten ihren Worten nicht, denn weit und breit war kein Amerikaner zu sehen. Doch von einer Minute zur anderen hatte sich das scheinbar friedliche Bild geändert: Amis, wohin man sah. Während die meisten Dorfbewohner vor ihren Häusern standen und teils ängstlich, teils neugierig der Dinge harrten die da kommen würden, brach urplötzlich und völlig unerwartet das Inferno über Kammerich herein. In kurzen Abständen krepierten überall Splittergeschosse. Menschen schrien und rannten in die Keller. Auch ein Amerikaner wurde schwer verwundet und sogleich in einem Militärfahrzeug in Richtung Wingenbach abtransportiert. Dieser Beschuß aus einer deutschen "8,8" dauerte, sicher ungefähr eine Stunde mit kleineren und größeren Pausen. Während dieser Zeit durfte sich kein Zivilist auf der Straße blicken lassen, oder er wurde von den Amerikanern mit Gewalt in den Keller zurückgejagt. Dann herrschte plötzlich eine geradezu unheimliche Ruhe. Allmählich kamen auch die verängstigten Menschen wieder aus ihren Kellern nach oben, um sich ein Bild der Zerstörung und der momentanen Situation zu machen. Stienchen kochte schnell einen Kaffee, und Ohm Johann ging zu den unterhalb von Kammerich angelegten Bunkern, wo eine Frau Hess ums Leben gekommen sein sollte. Ich blickte gerade aus dem Fenster zu Fischers rüber, als dort plötzlich die Dachziegel durch die Luft flogen und eine verspätet abgeschossene Granate explodierte. Eine Menge. Splitter schlugen in Ohm Johanns Haus ein. Alles ging so schnell; Dreck und Lehm flog uns um die Ohren, und dann schrie Stienchen fürchterlich auf. Ich sah sie an die Wand gelehnt stehen, aus einer furchtbaren Wunde am Fuß blutend. Erst bei näherem Hinschauen bemerkte ich, daß der Fuß glatt abgerissen war und nur noch an einem Hautzipfel hing. Ich wollte: auf sie zugehen, um sie zu stützen, als ich selber zusammenbrach.
Ich war von einem Splitter getroffen worden, der mir ein ganzes Stück aus meinem Bein gerissen hatte. Außerdem war mein Schienbein durchschlagen. In der ersten Aufregung und Hektik, es waren auch noch einige weitere Detonationen zu hören, hatte ich meine Verwundung zunächst überhaupt nicht wahrgenommen. Ivan lief bereits los, um Onkel Johann zu holen, während man aus der Nachbarschaft herbeilief und versuchte, die fürchterlich blutende Wunde, von Stienchen zu verbinden. Auch mein Bein wurde notdürftig verbunden. Die immer noch schreiende Stienchen brachte man dann in Vogelheims Keller nebenan.

Der Beschuß hatte inzwischen endlich ganz aufgehört und durch Kammerich flitzten amerikanische Jeeps und andere Militärfahrzeuge . Der Amerikaner lehnte eine ärztliche Hilfe von Zivilpersonen ab. Jedenfalls erfuhren wir dann noch, woher weiß ich nicht mehr, daß in Wingenbacher Hof ein deutscher Arzt sei. Onkel Johann fragte, dann Josef Fischer, ob er Stienchen mit seinem Pferd nach Wingenbacher Hof fahren könne. Fischer lehnte das ab. So machte sich schließlich Ohm Johann mit seinem doch wesentlich langsamer gehenden Ochsen auf den Weg zur vermeintlichen Rettung von Tante Stienchen.
Natürlich schmerzte, auch meine Wunde, und ich wollte so schnell wie möglich nach Thal zu meiner Mutter. Ivan setzte mich auf eine Schubkarre, an der er vorher noch einen Stecken mit einer weißen Fahne befestigt hatte, und fuhr los. Unterwegs sind wir sogar noch einige Male aus Gewehren beschossen worden; allerdings glaube ich, daß man bewußt vorbeigeschossen hat." Soweit die authentische Wiedergabe von dem damals 17 jährigen Josef Windscheif.
Von ihm und Ivan erfuhren wir Thaler also, wie es in Kammerich zugegangen war und was mit Tante Stienchen passiert war. Ivan ist dann sogleich wieder nach Kammerich zurückgeeilt, um eventuell seiner "guten Stienchen" beizustehen.

 

Hunderte Amerikaner zogen an Thal vorbei

Inzwischen kamen hunderte amerikanische Soldaten, einer hinter dem anderen, an Thal vorbei in Richtung Ahe. Wir standen im Kuhstall und beobachteten durch das Misttörchen die endlose Menschenschlange. Plötzlich gab der "Anführer" ein Zeichen und alle ließen sich hinfallen und robbten hinter Bäume und kleinere Bodenerhebungen. Erst jetzt sahen wir, warum diese "tapferen" Soldaten Gefechtsstellung eingenommen hatten, sie hatten nämlich das aus unserem Bunker herausragende Ofenrohr gesehen und wahrscheinlich für irgendeine "Wunderwaffe" gehalten. Wieder war es Mutter, die sich durch Rufen bemerkbar machte und den Amerikanern durch Gesten klar zu machen versuchte, daß sie dort unten keinerlei Gefahr zu erwarten hätten. Schließlich rafften sich einige besonders mutige Krieger auf, um sich von der Ungefährlichkeit des Ofenrohres zu überzeugen; schließlich handelte es sich ja auch, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, um einen Kanonenofen! - Am nächsten Tag, also am 9.4., tauchten auch unsere drei Gefangenen wieder auf. Natürlich waren sie jetzt offiziell freie Menschen. Man hatte sie über Nacht in Ahe einquartiert und sie lediglich vernommen, wie sie bei uns behandelt worden wären, ob Familienmitglieder Soldat oder in der Partei gewesen wären und ähnliches mehr. Da sie eigentlich nichts Negatives über Thal und dessen Bewohner aussagen konnten, ist unser Haus auch von jeglicher Belästigung seitens des großen Siegers verschont geblieben.
Am gleichen Tag kam auch Ivan aus Kammerich wieder nach Thal und trug den gerade erst vier Jahre alten Willi auf seinen Schultern. Weinend fiel er Oma um den Hals und stammelte immer wieder: "Stienchen tot! Stienchen tot!" Tante Stienchen war bei völlig klarem Verstand langsam verblutet. Ihre letzten Worte waren übrigens laut Augenzeugen: "Heinchen, ich kunn!" (Heinrich, ich komme!) Sie dachte dabei an ihren ein Jahr vorher bei Krakau gefallenen Bruder.
Ivan wäre am liebsten in Thal geblieben, denn mit Onkel Johann verstand er sich längst nicht so gut wie mit Tante Stienchen oder Oma und Opa.
Noch am gleichen Tag haben dann Opa und Giuseppe den verwundeten Josef auf einem Handwägelchen nach Ruppichteroth gefahren. In dem heutigen Kölner Schullandheim war nämlich da-mals ein Notlazarett, in dem ein amerikanischer Arzt mit dem noch vorhandenen deutschen Personal vorerst die schlimmsten Fälle von Verwundungen und Verletzungen behandelte. Allerdings wollte man Josef zunächst einmal nicht aufnehmen, da in besagtem Lazarett anfangs ausschließlich Soldaten behandelt werden sollten. Schließlich ist er dann doch aufgenommen worden. Bis Anfang September mußte er dann noch in Ruppichteroth bleiben, bis seine Beinverletzung auskuriert war. Seine Mutter und seine Geschwister waren längst wieder nach Eitorf zurückgekehrt. Eine solche Registrierungskarte, mußten die Bewohner von Ortschaften oder Städten in den ersten Nachkriegstagen stets bei sich tragen, um sich zu jeder Zeit vor den Alliierten als tatsächliche Einwohner des betreffenden Ortes, beziehungsweise der betreffenden Stadt, ausweisen zu können.

Leni bei den Amerikanern

Im Zusammenhang mit Tante Maria und ihren Kindern bliebe noch Lenis unfreiwilliges Zusammentreffen mit dem Amerikaner nachzutragen. Wie schon gesagt, hatte Leni am Samstag, dem 7. 4. in Ruppichteroth eingekauft. Auf ihrem Heimweg war sie nun, wo das Kämerscheider Tal und das Kesselscheider Tal Zusammentreffen, statt rechts in Richtung Thal, links in Richtung Paulinental, Kämerscheid gegangen. Man muß sich vorstellen, daß man damals Thal von der "Spinne" aus absolut nicht sehen konnte. Der östliche Zipfel der Kesselscheider Weide und der gesamte untere Hang zum Tal hin waren nämlich mit dichtem Wald bestanden. Leni war noch keine 50 m in besagtes "falsches" Tal eingebogen, als plötzlich Amerikaner aus den Büschen heraussprangen und die verdatterte Leni  "gefangennahmen" . Anschließend wurde sie nach Wingenbacher Hof gebracht, wo sie mit anderen zufällig Aufgegriffenen eingesperrt wurde. Alle sind von den Amerikanern gut verpflegt worden, und Leni hat dort zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade kosten können. Da man sie auch ausgefragt hatte, woher sie käme, Leni sprach übrigens etwas Englisch, nahm man sie schließlich am nächsten Tag mit nach Thal, das sicher schon längere Zeit von ihnen beobachtet worden war.
Es bliebe vielleicht noch zu erwähnen, daß Tante Marias Mann, Phillip, am 8.März, bei einem Bombenangriff auf Eitorf ums Leben gekommen war. Vier Tage später, am 12. 5., gleich nach Onkel Phillips Beerdigung, ist sie dann mit ihren Kindern nach Thal gekommen.
Doch nun wieder zurück zu den unmittelbaren Ereignissen nach dem Einmarsch der Amerikaner.
Im Aher Feld, ungefähr da, wo heute der Aussiedlungshof Dormann steht, hatte der Ami ein schweres Geschütz aufgebaut. Pausenlos hat er von hier aus in Richtung Front, die ja weiter im Norden und Osten lag, gefeuert. Wir konnten die Abschüsse vom Berg aus deutlich sehen und natürlich auch hören. Eines Morgens war das Geschütz wieder verschwunden. Was zurückblieb, waren Berge von leeren Messingkartuschen.
So vergingen die letzten Tage und Wochen des Krieges bis zum endgültigen Zusammenbruch aller Fronten, beziehungsweise bis zur bedingungslosen Kapitulation der Deutschen. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende, und. Deutschland hatte ihn verloren. Es folgte, die Zeit der Besatzung, und für die meisten Städter begann die furchtbare Zeit der Hungersnot, denn von einer auch nur einigermaßen geregelten Lebensmittelversorgung konnte in diesen ersten Nachkriegsmonaten keine Rede sein.
Die beiden Italiener haben dann Thal als erste verlassen. Wir haben leider nie mehr etwas von ihnen gehört.
Dann ging Tante Maria mit ihren Kindern nach Eitorf zurück, und auch Frau Geishoff mit ihrer alten Mutter, Frau Krefeld, kehrte in ihre dem Erdboden fast gleichgemachte Heimatstadt Köln zurück. Wenig später verließen auch Frau Müller, Ruth und der Pole Stefan Thal und zogen ebenfalls nach Köln. Es stand längst fest, daß Stefan nicht nach Polen zurückkehren wollte, er wollte bei seiner "Maarie", wie er bis heute den Namen Maria ausspricht, bleiben, und er hat auch für "Ruttchen" so nannte er Ruth, in den Folgejahren gesorgt, als wäre er ihr leiblicher Vater.
So blieb vorerst nur noch Familie Willi Siebertz in der ehemaligen "Böhmerwohnung".
Während alle Gefangenen relativ problemlos in ihre Heimat zurückkehren konnten, mußten sich die russischen Gefangenen bei eigens von den Russen eingerichteten Meldestellen einfinden, um dann mit Militärfahrzeugen abtransprtiert zu werden. Für diese Leute gab es nicht die Alternative, heimzukehren oder hierzubleiben. Sie mußten!
Peter, der bei Vogelheims gearbeitet hatte, und Ivan wollten mit aller Gewalt in Deutschland bleiben. Aus diesem Grund hatten sie sich in den dichten, halbwüchsigen Tannen, ca. 2oo m östlich von Thal, ein Versteck gebaut, in dem sie auch mehrere Tage "unsichtbar" geblieben sind. Allein es half nichts, sie konnten sich ohnehin nicht auf die Dauer verstecken, beide wurden doch noch von einem russischen Jeep abgeholt. Ivan weinte herzzerreißend, als er sich in Thal von uns allen verabschiedete. Auch Oma weinte, denn es war für sie, als wenn ein eigenes Familienmitglied Abschied für immer nehmen würde. Ivan, der vor dem Einmarsch der Deutschen in sein Land auch die Schreckensherrschaft der Bolschewisten kennen gelernt hatte, sagte immer wieder: "Ich jetzt ab nach Sibirien, bis an mein Lebensende!" Auf die Frage, wie er denn dazu käme, schließlich sei er doch jetzt endlich kein Gefangener mehr, antwortete er: "Weil ich für Deutsche nach Gefangennahme gearbeitet habe." Inwieweit seine dunklen Prognosen eingetroffen sind, kann man mit Bestimmtheit nicht sagen, alle die Ivan kannten, glaubten jedenfalls seinen Worten; denn hätte man ihm die Möglichkeit dazu gegeben, sicher würde er sich später einmal gemeldet haben!

 

Hamsterer auf dem Brölbähnchen

In dieser unmittelbaren Nachkriegszeit war das Elend und vor allen Dingen der Hunger in den Städten riesengroß. Täglich kamen ganze Kolonnen hungriger Städter aufs Land, um Nahrungsmittel zu "organisieren". Viele haben damals ihren zum Teil wertvollen Familienschmuck für Brot und Kartoffeln eingetauscht. Auf der anderen Seite ist das von den Bauern auch oft schamlos ausgenutzt worden.
Das Brölbähnchen war stets von diesen "Hamsterern" überfüllt. Hinzu kam dann noch der Flüchtlingsstrom aus dem Osten, der ja auch unsere Gemeinde ziemlich stark berührt hat.
Manche. Städter haben oft die Kartoffeln auf den Feldern mit bloßen Händen ausgegraben, um dann schnell wieder zu verschwinden. Die hiesigen Bauern haben aus diesem Grunde sogar regelrechte "Feldwachen" aufgestellt. So hat auch Opa seine: Kartoffeln im "Beerfeld", oberhalb von Kammerich, Nachmittage lang bewacht. Ich habe ihn öfters dabei begleitet.
Andere wieder gingen um die Türen, um sich ein Butterbrot oder sonst etwas Eßbares zu erbetteln. Von Thal ist niemals jemand hungrig wieder weggeschickt worden.
Das einzige Brot, das man damals kaufen konnte, war ein gelbes Maisbrot. Der Mais stammte natürlich von den riesigen Maisfeldern Nordamerikas. Ich muß gestehen, mir hat dieses "Notbrot" gar nicht schlecht geschmeckt, wenngleich die meisten Hiesigen nicht sehr davon angetan waren.
1946 kam dann Herr Müller aus Kriegsgefangenschaft nach Hause und mußte nun feststellen, daß seine hübsche junge Frau mit einem Polen zusammenlebte und an eine Rückkehr überhaupt nicht dachte.
Da er keine ordentliche Bleibe hatte, seine frühere Wohnung in Köln war natürlich ausgebombt, kam er nach Thal, wo ja seine Familie zuletzt gewohnt hatte. Seine Verwandten in Niederlückerath hatten ihn zuvor übrigens regelrecht vor die Türe gesetzt; warum das so geschah, entzieht sich meiner Kenntnis.
Herr Müller war körperlich ziemlich heruntergekommen, und nach der ersten Nacht in Thal stellte Mutter fest, daß er total verlaust war, denn in seinem Bett wimmelte es von diesem Ungeziefer. Ich weiß noch, daß Mutter daraufhin Spezialsalbe und Puder für ihn besorgt hat, denn schließlich konnte er ja nicht dafür, und sicher war ihm die Sache am peinlichsten, denn Herr Müller war ansonsten ein geradezu penibel sauberer Mensch.
Er war jedenfalls froh, daß er etwas zu essen bekam, und dafür hat er dann Opa auf der Landwirtschaft geholfen. Er war in vielen Dingen sehr geschickt und akurat, allerdings "harte Arbeit“ lag ihm nicht. Viel lieber schnitzte er Beil- und andere Gerätestiele, oder aber er besserte allerlei Acker- und Viehgerät aus oder erneuerte es. Allerdings war er auch diese Arbeit nach relativ kurzer Zeit wieder leid; hinzu kam noch, daß er dem immer emsigen Opa viel zu langsam arbeitete.
Heute muß man natürlich Verständnis dafür haben, denn schließlich war die Arbeit auf einem Bauernhof nun ganz und gar nicht sein Metier. Zu allem Überfluß zeigte er sich uns Thalern gegenüber immer sturer und unzugänglicher, so daß ihm schließlich nahegelegt wurde, Thal so bald wie möglich zu verlassen, zumal wir ja keinerlei echte Beziehung oder gar Verpflichtung ihm gegenüber gehabt hätten.
Er hat sich dann auch in Köln nach einer Wohnung umgesehen und ist nach wenigen Wochen dorthin umgezogen.
Damit war das Intermezzo Müller für Thal endgültig vorbei. In einem späteren Scheidungsprozeß ist die Ehe Müller dann offiziell geschieden worden.
Er hat übrigens auch wieder geheiratet und ist 1971 in Köln gestorben. Ruth hat ihren Vater bis zuletzt öfters besucht und nach seinem Tod sogar seinen VW geschenkt bekommen.
Doch zurück zur unmittelbaren Nachkriegszeit.
Wie bereits erwähnt, fehlte es uns hier auf dem Lande in puncto Essen an nichts. Die Bauern und Alteingesessenen hatten allemal genug zu essen. Für "Butter und Speck" konnte man damals so ziemlich alles erreichen, zum Beispiel auch auf Ämtern und Verwaltungen.
Nichteingesessene, insbesondere Flüchtlinge und Evakuierte, mußten oft auch hier auf dem Lande am Hungertuche nagen. In den Schulen gab es damals die sogenannte Schulspeise. Es handelte sich hierbei meist um Trockenmilchpulver, das zu einer Art Milchbrei gekocht wurde und uns Schulkindern dann in den Pausen gereicht wurde. Jedes Kind brachte dafür eigens einen "Eßbecher" von zu Hause mit, der einfach an den Ranzen gehangen wurde. Dieses Eßgeschirr war in den meisten Fällen eine Konservendose, an die mit Hilfe: von zwei Löchern ein Drahthenkel gemacht worden war. Als "Nachspeise" gab es manchmal für uns bis dahin völlig unbekannte Dinge wie Kaugummi oder Schokolade.

Die Belgier als Besatzungsmacht

In unserer Gegend waren Belgier die Besatzungsmacht und haben sich, zumindest anfangs, dementsprechend auch aufgespielt. Über sie ist relativ wenig Erfreuliches zu berichten, wenngleich man auch hier natürlich nicht alle über einen Kamm scheren darf. Berüchtigt und gefürchtet war beispielsweise auch ihre oft rücksichtslose und brutale Fahrweise, wie sie auf ihren schweren Lastwagen auf der damals noch sehr engen Brölstraße und durch die Ortschaften rasten. Ein anderes Beispiel aus dieser Zeit: auf dem Ruppichterother Brölbahnhof, ungefähr dort, wo heute das Postgebäude steht, war ein Viehwagen abgestellt worden, in den alle Zivilisten, die sich irgendeines "Vergehens" schuldig gemacht hatten, eingesperrt wurden. Oft sogar mußten solche "Übeltäter" über Nacht in dem engen Wagen ausharren. Ein oben genanntes Vergehen war beispielsweise schon, wenn jemand seinen von der Militärregierung ausgehändigten, mit Fingerabdruck versehenen Personalausweis vergessen hatte. Manchmal schreckte man sogar vor einer Prügelstrafe nicht zurück. (Zeuge: Willi Bodenstein aus Ahe)
Die Belgier waren außerdem noch "große Jäger vor dem Herrn". Es gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen auf die Jagd zu gehen. Das am leichtesten zu jagende Wild waren unsere da-mals sehr zahlreich vorhandenen Rehe. Fast täglich kamen solche "Jägertrupps" auch an Thal vorbei, und sehr oft kamen sie dann später, nach erfolgreicher "Pirsch", johlend und singend, ein erlegtes Stück Rehwild an einem Stecken zwischen sich tragend, wieder an unserem Haus vorbei. Die Folge dieser unkontrollierten Abknallerei war ein rapider Rückgang des Rehwildbestandes in unseren Wäldern. Auf der anderen Seite nahm der Bestand des wesentlich schwerer zu jagenden Schwarzwildes derart zu, und zwar in relativ kurzer Zeit, sodaß man schon bald von einer akuten Wildschweinplage sprechen konnte. Dieses sich schnell vermehrende Wild, das ja hauptsächlich in der Dämmerung und in der Nacht auf Nahrungssuche geht, verwüstete oft in einer einzigen Nacht ganze Felderstreifen. Ganz besonders hiervon betroffen waren die Kartoffelfelder. Auch dagegen schritten die Bauern zur Selbsthilfe. Abwechselnd wurden Nachtwachen auf die "bedrohten" Felder verteilt, die mit Hilfe von allerlei Lärmgeräten die Wildschweine abzuhalten versuchten. Solche Wachen sind auch in den Kammericher Feldern aufgestellt worden.
Der Belgier und das Hitleralbum
Ein belgischer Offizier, der in Ruppichteroth stationiert war, kam öfters auf seinen ausgedehnten Spaziergängen an Thal vorbei. Er sprach etwas Deutsch, und so kam meine Mutter manchmal mit ihm ins Gespräch. Er wurde hereingebeten und offensichtlich gefiel ihm diese Geste, denn von nun an besuchte er uns fast jeden zweiten Tag. Eines Tages, unser "Freund” kam wieder einmal auf einen Augenblick in unser Haus, spielte ich gerade mit einem Hitleralbum, das Onkel Heinchen einmal nach Hause geschickt hatte. Er nahm mir das Album aus der Hand, blätterte es stumm durch, legte es wieder hin und ging wortlos fort. Mutter und ganz besonders Opa befürchteten nun irgendwelche Strafmaßnahmen, denn es war strengstens untersagt, Gegenstände oder Andenken, die auch nur andeutungsweise einen Bezug zum Dritten Reich hatten, im Hause zu haben. Besagtes Album ist daraufhin auf dem Hauklotz in Stücke gehauen worden und anschließend im Ofen verschwunden, heute sage ich: Leider! -
Der belgische Offizier, dessen Name ich übrigens längst vergessen habe, hat seitdem Thal nicht mehr besucht. Die befürchtete "Bestrafung" ist allerdings ebenfalls ausgeblieben.

Die Monate nach dem Kriegsende

Inzwischen waren die Kinder aus Kammerich und damit auch aus Thal wieder nach Schönenberg eingeschult worden. Aus den konfessionslosen Schulen der Hitler-Ära waren wieder reine Konfessionsschulen geworden, so daß die evangelischen Kinder aus Kammerich nach Ruppichteroth in die Schule gehen mußten. Zusammen mit meinem einzigen gleichaltrigen Klassenkamerad Josef Oedekoven und dem ein Jahr älteren Johann Fischer ging ich nun täglich den weiten Schulweg von Thal nach Schönenberg. Ein Jahr später gesellten sich noch Franz-Josef Vogelheim und Hans Happ, die beide ein Jahr jünger waren, zu unserer Dreiergruppe hinzu. Unser Schulweg führte über Fußberg nach Schönenberg und es kam nicht selten vor, daß sich vor allen Dingen unser Heimweg über zwei bis drei Stunden erstreckte.
In dieser Zeit lagen die Wälder noch voller Kriegsmaterial und wir Kinder spielten mit diesem gefährlichen "Spielzeug" natürlich ganz besonders gern, obwohl unsere Eltern uns das strengstens verboten hatten. So hatten wir beispielsweise in "Geheimverstecken", wie wir das nannten, Panzerfäuste, Flak- und Geschützgranaten, Handgranaten und ähnliches verstaut. In Schönenberg, im Steinbruch hinter der Schule, dort, wo sich heute das Holzsägewerk Wirges befindet, lagen ganze Berge von Munition jeder Art. Jeder konnte frei dorthin gelangen, und das haben wir "Pänz" natürlich wahrgenommen und uns täglich ganze Taschen voll davon geholt. Die Patronenspitzen "knippten" wir zu Hause im Schraubstock ab und erhielten so vortreffliche "Schußprojektile" für unsere "Pietschen" (Schleudern) . Das Pulver sammelten wir in Tüten und Taschen und brannten damit Wespennester aus, die damals meiner Meinung nach viel häufiger überall am Wegrand anzutreffen waren, als das heute der Fall ist. Die leeren Hülsen wurden wieder als Knallobjekte, das Zündhütchen nach oben, in den Schraubstock gespannt. Dann wurde ein langer Nagel als "Schlagbolzen" mit der Hand daraufgehalten. Mit der anderen Hand versetzten wir dann mit Hilfe eines Hammers diesem Nagel einen kurzen Schlag, und wir hatten unser "Knallerlebnis".
Ein anderes Mal warfen wir eine 8,8 - Granate so lange gegen einen Felsbrocken, bis sich die Geschoßspitze lockerte und wir so an das "begehrte" Stangenpulver kommen konnten. Aus Panzerfaustköpfen kratzten wir mit Hilfe von Nägeln und Schabern das Dynamit heraus, um es anschließend zum "Schlüsselknallen" wieder zu verwenden. Das kleingestoßene Dynamit wurde dann in einen Hohlschlüssel gestopft. Als letzte Zugabe kamen dann noch einige abgekratzte Streichholzschwefelköpfchen oben drauf. Jetzt wurde ein genau in den Schlüssel passender Nagel darauf gesetzt und das Ganze mit Hilfe einer Kordel, die am Schlüssel und am Nagel befestigt war, gegen eine Wand, eine Mauer, oder auch einen einfachen Steinbrocken geschlagen. Es gab dann jedes Mal, je nach der Stärke der "Ladung", einen mehr oder weniger lauten Knall. Dabei wurde oft der Schlüssel regelrecht auseinandergefetzt. Ein großer schwarzer Pulverfleck an der Wand zeugte anschließend von unserer "Tat".
Wenn wir bei unseren gewiß nicht ungefährlichen Spielen einmal von unseren Eltern erwischt wurden, hat es öfters auch "handfeste" Strafen abgesetzt.
So hatten wir in Kammerich, hinter Fischers Scheune, einmal eine scharfe MG-Patrone im Schraubstock auf bereits geschilderte Art mit Hilfe unseres "Nagel-Schlagbolzens" zur Explosion gebracht. Der gewaltige Knall hatte natürlich sämtliche Nachbarn aufgeschreckt. Johann Pischers Vater, der von uns einfach nur "de Pescher" genannt wurde, kam daraufhin auch prompt mit einem dicken Knüppel, um uns entsprechend zu bestrafen. Wir konnten uns gerade; noch in "Müllers Kuhle" retten, ein Müllabladeplatz am oberen "Ecker", genau dort, wo heute das Haus von Bernhard Hering steht. Nur Johann selber hatte es nicht mehr geschafft; er bezog von seinem Vater eine fürchterliche Tracht Prügel. Wir anderen wurden dafür am nächsten Tag in der Schule bestraft, denn Fischers hatten unsere "Missetat" dem Lehrer gemeldet.

Die „Untermieter“ verlassen Thal
Nach dieser kleinen Exkursion nun wieder zurück nach Thal. Bald schon verließen auch die letzten "Thaler Untermieter", Familie Willi Siebertz, ihre viel zu enge Wohnung in Thal und zogen um nach Fußhollen.
Da in dieser Zeit die Flüchtlingsunterbringung in ganz Deutschland ein kaum lösbar erscheinendes Problem war, wurden auch uns Thalern gleich wieder, von Amts wegen versteht sich, neue Mieter zugewiesen, und das, obwohl Mutter gerne die Zwei-Zimmerwohnung für sich behalten hätte. Allein es half nichts: wir mußten die Wohnung zur Verfügung stellen. …
Kurz nachdem Willi Siebertz Thal verlassen hatte, kam ein Pferdefuhrwerk mit einer Familie namens …. (Anm.: Name weggelassen, da die Familie heute noch in Ruppichteroth wohnt)  vorgefahren, um in die leerstehende Wohnung einzuziehen. Wir Thaler, das heißt, meine Eltern und Großeltern, waren darüber verständlicherweise wenig erfreut, zumal es sich hierbei um eine relativ große Familie handelte. Als das Familienoberhaupt dann aber die winzige Einzimmer-Wohnung sah, das hintere Zimmer hatten meine Eltern nach dem Auszug von Siebertz kurzentschlossen mit eigenen Möbeln belegt, nahm er von selbst Abstand von der ihm zugedachten Wohnung, und das Fuhrwerk machte sich wieder auf den Rückweg nach Schönenberg. Die Familie … ist dann irgendwo anders in unserer Gemeinde untergebracht worden.