Bilderbuch Ruppichteroth

Ansprache von Herrn Abraham Lehrer am 27.1.2022 in Ruppichteroth

Sehr geehrte Damen und Herren,

meine nichtjüdischen Klassenkameraden in der Grundschule und auf dem Gymnasium hatten durchweg mehrere Großeltern. Meine jüdischen Freunde hatten nur zum Teil eine Oma oder einen Opa. Ich hatte nichts davon und habe es mir stets so sehr gewünscht. Es war ein Grund für mich mit dem lieben Gott zu hadern und in meinen Gesprächen mit ihm, mich über eine eklatante Benachteiligung zu beklagen. Der Neid war mir wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben.
Es ist Januar 1979. Im Fernsehen wird der amerikanische Vierteiler „The Holocaust“ gezeigt. Ich sitze mit meinen seligen Eltern vor dem Bildschirm und wir schauen uns gemeinsam den Mehrteiler an. Die häufigste Reaktion von Ihnen während und nach der Ausstrahlung ist Kopfschütteln. Ich sage Ihnen, ich habe verstanden, so war es nicht. Aber bitte erzählt mir doch, wie es wirklich war. Die Antwort meines Vaters: „Wir reden nicht darüber!“. Dies ist bis zu seinem Tod so geblieben. Ich war 1979 fast 25 Jahre alt.
Erst im Alter von mehr als 50 Jahren habe ich die Kraft aufgebracht, mich dem Wunsch oder der Anordnung meines Vaters nicht nach Polen zu reisen zu widersetzen. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Meine Mutter berichtet wenige Tage vor meiner Abreise von ihrer Zeit in Auschwitz-Birkenau, auch von der Baracke, in der sie gehaust hat. Bitte stellen Sie sich meine Verblüffung und meine Gefühle vor, als ich dort hinkomme und ausgerechnet ihre Baracke ist erhalten. Die Aufteilung und die Einrichtung sind noch genauso, wie meine Mutter es mir beschrieben hat. Die Minuten in dieser Bretterbude haben eine starke Wirkung auf mich gehabt: Es hat mich umgehauen.
Am 20. Januar 1942, also genau vor 80 Jahren und 7 Tagen, wird in einer Besprechung mit Frühstück die Endlösung der Judenfrage von 15 hochrangigen Vertretern des Naziregimes organisiert. Das Ergebnis dieser Dienstbesprechung? 6 Millionen ermordete jüdische Männer, Frauen und Kinder.
1981 haben meine Frau und ich geheiratet. Zu dieser Zeit haben junge Frauen und Männer beschlossen, eine Zugangskontrolle zu den Veranstaltungen und Gottesdiensten der Kölner Gemeinde einzurichten. Damals habe ich als Teil dieser Gruppe geglaubt, bis wir einmal Kinder haben werden, wird diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr notwendig sein. Später habe ich mir als Endzeitpunkt die Hochzeit unserer Kinder vorgestellt. Mittler Weile haben wir Enkelkinder und ich glaube nicht mehr daran, dass ich die Abschaffung von Schleusen und Kameras erleben werde.
Antisemitismus in den verschiedensten Ursprüngen und Formen ist so verbreitet, wie seit 75 Jahren nicht mehr. Eine Menge Bildungsarbeit gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ist in diesen fast 8 Jahrzehnten geleistet worden. Aber mit welchem Erfolg? Die Juden beherrschen immer noch die Finanzwelt und stürzen die Märkte ins Chaos. Israel ist verantwortlich für die gesamte Notlage der arabischen Staaten im Nahen Osten. Die Covid-19-Pandemie ist eine jüdische Erfindung, um die Bevölkerung zu versklaven. Sie wissen alle, verehrte Damen und Herren, diese Liste lässt sich ohne Probleme verlängern.
Der Landtag NRW hat gemeinschaftlich mit der Landesregierung beschlossen den 27. Januar zukünftig jährlich mit einer Gedenkstunde zu begehen. Die jüdische Gemeinschaft begrüßt dieses Vorhaben ausdrücklich. Wir haben nun jährlich drei Tage, die mit dem Gedenken an diese unrühmliche Zeit eng verbunden sind:
•    Die Reichspogromnacht am 9. November, bisweilen auch Reichskristallnacht genannt, der traditionellste Gedenktag, aber auch der am besten mit dem Beginn der Vernichtung des europäischen Judentums verbundene Tag.
•    Die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen SU haben den Freudentag des 8./9. Mai mitgebracht, das Ende des großen vaterländischen Krieges.
•    Und zuletzt der von BP Roman Herzog etablierte 27. Januar, den wir heute begehen.
Drei Tage, die richtig angewendet, ausreichen, die Erinnerung an die schlimmste Ära in der Menschheitsgeschichte wach zu halten. Diese Erinnerung ist und muss die Basis bleiben für das Bestreben, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Aber auch die Intensionen und Erfolge des Festjahres „321 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Köln, NRW und Deutschland“ sind nur möglich gewesen, mit dem Wissen über die Shoa.
Aber sind diese Tage immer noch Leuchtturmprojekte oder Feigenblätter der Gesellschaft? Um den Antisemitismus heute zurückzudrängen, müssen alle Bereiche der Gesellschaft zusammenwirken. In der Justiz, in Hochschulen und Schulen, in der Kultur sowie bei Polizei und Bundeswehr muss eine interne selbstkritische Prüfung stattfinden. Um das zivilgesellschaftliche Engagement zu stärken ist ein Demokratiefördergesetz notwendig. Länder und Hochschulen müssen zügig das geänderte Richtergesetz umsetzen, das verpflichtende Lehrveranstaltungen zum NS-Unrecht in der Juristenausbildung vorsieht. Auch die Lehrerausbildung muss entsprechend reformiert werden, um Antisemitismus in den Schulen zurückzudrängen und die Lehrkräfte im Umgang mit antisemitischen Vorfällen zu schulen.
Vor allem muss der israelbezogene Antisemitismus stärker als bisher bekämpft werden. Israel ist für Juden eine Lebensversicherung. Der BDS-Beschluss des Bundestages muss in alle Landesparlamente übernommen werden und gesetzlich untermauert werden.

 Als das KZ Auschwitz mit seinen Nebenlägern geräumt wird, beginnt auch für meine Mutter der lange Marsch nach Deutschland. Sie strandet in Dresden und überlebt das Bombardement der Alliierten Flieger.
Am 18. Januar 1945 ging der 14-jährige David Leitner (Spitzname Dugo) mit weiteren 60.000 Auschwitz-Häftlingen auf einen Todesmarsch. Hungrig, erschöpft und frierend wanderte Dugo endlose Kilometer, während er von rundgeformten Brötchen träumte (Bilkalach – wie seine Mutter sie nannte), die in Eretz Israel, dem heutigen Staat Israel, auf den Bäumen wuchsen. Er überlebte, erreichte Eretz Israel, und als er das erste Mal den Machane-Jehuda-Markt in Jerusalem besuchte, sah er einen Falafel-Stand. Die Falafelbällchen erinnerten ihn an die runden Brötchen, die in den schweren Stunden des Marsches seinen Geist ermutigt hatten. Seitdem isst Dugo - jedes Jahr am 18. Januar - Falafel, um zu feiern, dass er am Leben ist! Lassen Sie uns auch in Dugos Sinn, die Erinnerung an die Shoa oder den Holocaust wachhalten. Lassen Sie uns gemeinsam für eine sichere Zukunft von Jüdinnen und Juden in unserem Land eintreten.
Vielen Dank!

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Frau Eva Drubig,Berlin, Referentin des Präsidenten sowie d. Vizepräsidenten im Zentral der Juden in Deutschland
 

Zurück zur Hauptseite „Gedenkfeier 27.1.2022"