Um es vorweg zu sagen: Ich bin heute - Januar 2014 - mit 87 Jahren ein eingefleischter Pazifist, der politischen Erklärungen, insbesondere zu kriegerischen Ereignissen, grundsätzlich misstraut, so wie der Physiker und Schriftstelle Georg Christopf Lichtenberg ( 1742 -1799), der sagte:
„Ich möchte etwas darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan werden, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden".
Als 10-jähriges Kind habe ich anders gedacht. Für Uniform und Schießgewehr sind Jugendliche stets zu begeistern, ich auch. An mein erstes Erlebnis mit Soldaten kann ich mich gut erinnern. Im Jahr 1936 ließ Hitler - entgegen des Versailler Vertrages - deutsche Soldaten in das Rheinland einmarschieren. Ich besuchte da noch die Grundschule in Ruppichteroth. Unser Lehrer Piel, ein begeisterter Parteigenosse, gab uns Schülern schulfrei, um den motorisierten Soldaten soweit und so lang wie möglich zu folgen, was wir Jungen mit dem Fahrrad gerne machten, ohne uns dabei politisch etwas zu denken. Für uns 8-bis 10-jährige Jungen waren motorisierte Soldateneinheiten etwas Sensationelles. Autos und Motorräder waren zu der Zeit nichts Alltägliches.
Im Jungvolk waren die Schulkinder mit Braunhemden als Pimpfe organisiert. Dass ich dabei gewesen wäre, eher nicht, weil ich dann den 2 km langen Schulweg nach Ruppichteroth zweimal hätte gehen müssen. In der späteren Hitlerjugend -HJ- habe ich gemeinsam mit Vetter Siegfried sporadisch mitgemacht. Uns reizten eigentlich nur das Kleinkaliberschießen auf 12-Ring-Scheiben und die Geländespiele. Die vormilitärische Erziehung mit Marschieren und Exerzieren war uns lästig, weshalb wir nur unregelmäßig oder sporadisch zu den Veranstaltungen gingen.
Als unsere Jahrgänge 1925 und 1926 an einem Sonntag insgesamt und geschlossen von der HJ in die NSDAP =Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, feierlich übernommen werden sollten, hat sich die Velkener Jugend geschlossen verweigert, indem wir uns den Lustfilm "Quax der Bruchpilot" mit Heinz Rühmann in Waldbröl angesehen haben. Dadurch sind wir von der Mitgliedschaft in der NSDAP verschont geblieben. Namhaften und bekannten deutschen
Nachkriegsdichtern und -denkern ist das nicht erspart geblieben, was sie später bereuten.
Nach dem Besuch der Evangelischen Volksschule in Ruppichteroth bin ich als Einziger aus meiner Klasse, nach bestandener Aufnahmeprüfung, zum Hollenberg - Gymnasium in Waldbröl gewechselt. In der Aufnahmeprüfung mussten wir Rechenaufgaben lösen und ein Diktat schreiben. Darin hatte ich statt "Frühjahr" im rheinischen Platt "Fröhjohr" geschrieben. In der Tat fiel es mir anfangs schwer, mich hochdeutsch auszudrücken. Zu Hause auf dem Lande sprach man nur "Rheinisches Plattdeutsch". Dass mich das Hollenberg-Gymnasium trotz dieser schulischen Schwächen damals ( 1937/38) aufgenommen hat, spricht für deren pädagogisches Verständnis und Weitsicht. Ich war ein typischer Spätzünder! Erwähnenswert bleibt noch, dass ich kein mal sitzen geblieben bin, ohne jegliche Nachhilfe.
Wenn die Fliegeralarmsirenen nachts gellend feindliche Fliegerverbände ankündigten, standen wir auf und gingen auf freie Wiesen und Felder, um das Bombardement auf Köln oder andere Großstädte zu beobachten. Nach den behördlichen Verhaltensvorschriften bei Fliegeralarm hätten wir eigentlich einen Luftschutzkeller aufsuchen müssen. Hierfür war unser Rübenkeller, der sog. Knollenkeller vorgesehen. Der war jedoch so beengt - niedrige Decke , kein richtiges Fenster, sondern nur ein kleiner Mauerdurchbruch für die Knollenernte - dieser dunkle Kellerraum schreckte mehr ab als dass er als Schutzraum einlud.
Diese räumliche Beengtheit schreckte mehr ab als die Dunkelheit. Denn während des ganzen Krieges musste jedermann Verdunkelungsvorschriften einhalten. Es durfte kein elektrisches Licht nach draußen dringen, was feindlichen Fliegern als Orientierung hätte dienen können. Alle Fenster und Türen mussten mit nicht lichtdurchlässigem Material aus festem Papier oder Kartonage verdunkelt werden. Straßenbeleuchtung war abgeschaltet. Den Fahrzeuglampen wurde eine Haube oder Kapuze übergestülpt, die einen Daumenbreiten und etwa 10-20cm langen Schlitz hatte, der oben mit einem Schirm versehen war, damit das Licht nur nach unten auf den Boden scheinen konnte.
Wie oben schon erwähnt, begaben wir uns bei Fliegeralarm auf Wiesen oder Weiden, die ein freien Blick Richtung Köln erlaubten. Denn dort warfen die feindlichen Flieger ihre Spreng- und Stab-Brandbomben ab. Während die Tonnen schweren Sprengbomben die städtische Bebauung in Schutt und Asche legten, setzten die Bandbomben - wie der Name schon sagt - alles Brennbare in Brand.
Da diese Bomben verhältnismäßig klein und leicht waren, blieben sie direkt unterm Dach, also auf dem Speicher liegen. Von Hand konnten sie entfernt oder an Ort und Stelle gelöscht werden. Darauf war die Stadtbevölkerung trainiert. Dennoch sah man Köln am Horizont als brennende Großstadt.
Wir auf dem Land konnten beobachten, wie die deutsche Fliegerabwehr, die sog. Flak versuchte, die Feindflieger abzuschießen. Die Fliegerabwehr bestand darin, mit riesigen Scheinwerfern die feindlichen Flieger ausfindig zu machen und sodann mit Flakkanonen zu beschießen. Wir sahen dann, wie die Scheinwerferkegel am Horizont hin und her wanderten, um die Feindmaschinen in den Lichtkegel zu kriegen. Ferner konnten wir deutlich das Flakfeuer erkennen, wenn die Abwehrgeschosse in der Luft explodierten.
Wenn wir dieses "Spiel" beobachteten, hofften wir mit Bangen von den Bomben verschont zu bleiben. Tatsächlich sind in Velken nur wenige Bomben hinterm Dorf abgeworfen worden, scheinbar mehr aus Versehen als gezielt. Niemand ist zu Schaden gekommen, abgesehen von den Bombenkratern im freien Feld.
Mehr angst und bange machten uns die sog. Leuchtkugeln, die über uns abgeworfen wurden. Sie hingen an einem Fallschirm und schwebten Minuten lang über uns bis sie am Boden landeten. Die Landschaft war dann taghell erleuchtet, was uns Furcht und Schrecken einjagte. Die sog. Leuchtkugeln bestanden aus einem Ofenrohr dicken und etwa 50 cm langen Brennstäben. Die wiederum bestanden aus einem Phosphor-Magnesium-Gemisch, das nicht leicht entflammt, aber so stechend-hell brennt, wie
das Licht bei Schweißarbeiten. Die Fallschirme hatten einen Durchmesser von etwa 10 m und bestanden aus bester Seide. Aus diesem dünnen und feinen Material schneiderte meine Tante Ida, die gut nähen konnte und dafür auch mehr Zeit hatte als meine Mutter, uns Kindern Unterwäsche. Kaufen konnte man so was damals nicht.
Jeder fragt sich und mich: Woher weiß der bzw. ich das von den sog. Leuchtkugeln so genau und mit soviel kleinen Einzelheiten nach über 70 Jahren?
So vergesslich ich auch heute in Alltagsdingen bin, doch selbst erlebte Geschichten haben sich oft in mein Gedächtnis derart eingebrannt, dass ich mich da an viele Einzelheiten gut erinnern kann, wie sich folgendes gemeinsame Erlebnis mit meinem Vetter Siegfried nachvollziehen lässt. Nach einer Fliegeralarmnacht mit vielen Leuchtschirmchen haben wir beide uns auf die Suche nach diesen Leuchtkugeln gemacht. Bald hatten wir einen Fallschirm entdeckt, der allerdings in einem hohen Baum hängen geblieben war. Siegfried konnte gut klettern.
Wir haben dann weiter gesucht und eine richtige Fundgrube entdeckt: Wir fanden eine Dreier Leuchtkugel-Verpackung, die nur teils gezündet hatte. Diese 3er Blechverpackung hatte sich halb und schräg in die Erde gebohrt. Wir konnten ein Fallschirmchen mit anhängendem Leuchtsatz aus der ofenrohr-ähnlichen Verpackung herausziehen und mit nach Hause nehmen, was eigentlich nicht erlaubt war. Solche Funde mussten,- wie auch die Flugblätter -, umgehend an behördliche Stellen abgeliefert werden. Das haben wir nicht getan, um die Fallschirmseide für Unterwäschekleidung zu nutzen.
Von Anfang des Krieges am 01. September 1939 bis zu meiner Einberufung im Dezember 1943 habe ich feindliche Flugblätter, die englische und später auch amerikanische Flieger neben den Bomben abwarfen, gesucht, aufgehoben und systematisch gesammelt. Nach jedem nächtlichen Fliegeralarm ging ich nach der Schule auf Flugblattsuche. Wie ein streunender Hund lief ich Felder, Wiesen und Weiden, um feindliche Pamphleten zu finden, was streng verboten war. Eigentlich hätten die Flugblätter ungelesen vernichtet oder an Dienststellen abgeliefert werden müssen. Die Eltern haben meinen Flugblatt- Sammelfleiß wohlwollend toleriert. Ich durfte sogar durchnässte und verschrumpelte Flugblätter mit Mutters Bügeleisen auffrischen. Schließlich hatte ich ja von ihnen die kritische Haltung gegenüber Hitler und Konsorten sowie deren Demagogie "geerbt".
Warum habe ich feindliche Flugblätter so eifrig gesucht, gesammelt und aufgehoben, obwohl es verboten war? Spielte die kritische Gesinnung gegenüber den Nazis eine Rolle? Oder was war sonst dafür ausschlaggebend?
Kinder tun bekanntlich gerne, was verboten ist. Als der Krieg im September 1939 anfing, war ich 12 Jahre. Natürlich spielte auch meine ablehnende Haltung gegenüber den Nazis eine Rolle. Hinzu kam Neugier und der Wunsch, Neuigkeiten und Meinungen von der anderen, der feindlichen Seite zu erfahren. Die Nazi-Propaganda sprach immer nur mit einer einzigen Stimme, in Presse und Rundfunk gleichermaßen. Diese gesteuerte Einheitsmeinung ließ keinen Raum für andere, schon gar nicht für feindliche Nachrichten, weil es die Kriegsmoral oder Wehrkraft des deutschen Volkes schwächen oder zersetzen konnte.
Ich und meine Eltern haben die Flugblätter gelesen und sie ernst genommen. Auch dadurch waren wir über Hitlers wahre Kriegspolitik und über den wirklichen Kriegsverlauf besser informiert. Goebbels, Hitlers Propagandaminister meinte dazu: Feindliche Flugblätter sind Gift für das Volk. Sie unterminieren die Kriegsmoral des Volkes, das können wir nicht zulassen.
Als ich 1944 eingezogen wurde, konnte ich dem Flugblatt - Hobby nicht mehr nachgehen. Die bis dahin gesammelten Exemplare, etwa 150 verschiedene Stücke, hatte ich gebündelt und auf den Speicher unseres alten Wohnhauses versteckt, um sie über den Krieg hinaus zu retten. Mit meinem holperigen Schulenglish schrieb ich darauf: "Please!! Do not destroy this parcel! I need it after the war." Diese Flugblatt-Rettungsaktion verrät auch meine damalige ablehnende Einstellung zu Hitlers Krieg bzw. meinen mangelnden Glaube an den Endsieg.
Im Jahr 2013 ist meine damalige illegale Sammelleidenschaft überregional bekannt geworden. Zunächst im Rundfunk, und zwar in der WDR 5 Sendereihe "Erlebte Geschichten" am 27. Januar 2013 und in der Ruppichterother Ökumenischen Bücherei am 28.Mai 2013, jeweils unter dem Motto: "Botschaften vom Himmel". Bei der Veranstaltung in Ruppichteroth hat mich mein Freund und Nachbar Friedhelm Dilk (OStD a.D.) mit Rat und Tat unterstützt, indem er fotografierte Flugblätter großformatig mit einem Beamer an eine weiße Wand projizierte. Ohne seine Hilfe hätte ich da alt ausgesehen.
Ebenso hilfsbereit war Freund Friedhelm bei der Flugblattschau am Sonntag, 12.01.2014 in Dreizehn Linden. Die Holtofer Chorgemeinschaft hatte mich gebeten, anläßlich der Kleinkirmes, die mit 50 bis 60 Leuten gut besucht war, die Flugblätter zu zeigen und zu kommentieren. Mehrere Tage vorher hatten Friedhelm und ich im Kreisarchiv in Siegburg ausgesuchte Flugblätter fotografiert. So konnten diese per Beamer, vom ebenfalls hilfsbereiten Nachbarn Achim Spreer, via Publik Viewing gezeigt werden. Der Bonner General-Anzeiger vom 13.01.2014 hat darüber berichtet.
Auch der Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlichte schon vor Jahren in seiner Wochenendausgabe vom 25./26.Oktober 1986 einen zweiseitigen Bericht über meine Flugblätter und meine Sammelleidenschaft.
Vor Jahren habe ich die Flugblattsammlung, insgesamt etwa 150 verschiedene Exemplare , den Archiven der Rhein-Sieg-Krieses in Siegburg und dem Bonner Stadtarchiv übergeben. Der damalige Ltd.Städt. Archivdirektor, Manfred van Rey, hat sich hierfür mit Schreiben vom 09.01.1996 aufrichtig und herzlich bedankt, u. a. mit den Worten:"... haben Sie im Herbst v.J. dem Stadtarchiv und der Stadthistorischen Bibliothek Ihre umfangreiche Sammlung von weitgehend eigenhändig unter Gefahr für Leib und Leben aufgehoben und gesammelten Flugblätter aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geschenkt..."
Meine gymnasiale Schulzeit dauerte bis zur 6. Klasse im Dezember 1943. Die ersten Schüler dieser Klasse wurden bereits im September 1943 zur Flak ( Fliegerabwehrkanone) eingezogen. Wegen schlechter Zähne hatte man mich und einige andere Schüler zurück gestellt, worüber sich meine Eltern freuten.
Ich allerdings nicht. Ich wollte auch weg von der Schule und Neues erleben und endlich mal eine Uniform tragen, wie die meisten Jungen dieses Alters, was mir aber meine Eltern trotz hartnäckiger Quengelei bis dahin verwehrt hatten.
Also ging ich sofort zum Zahnarzt, der mir in kurzer Zeit mein Gebiss militär-tauglich machte. Der Einberufung zur Flak bin ich noch begeistert gefolgt. Kaum war ich dabei, da verließ mich mein Enthusiasmus fürs Militär, für alle Zeiten.
Die Warnungen meines Vaters, der den I. Weltkrieg an der Westfront mit anschließender Gefangenschaft in Frankreich erlebt hatte, hatten mich eingeholt: Er hatte mir vorher prophezeit, dass ich bald die Nase voll haben würde von allem Militärischen. Wie recht er behalten sollte!
Kaum waren wir als Flakhelfer in Luftwaffenblauer Uniform eingekleidet, wurden wir Schüler (16- bis 17-jährig) wie Rekruten mit allen soldatischen Schikanen gedrillt. Dazu kam, dass sich die Vorgesetzten über uns Schüler lustig machten, wenn z. B. irrtümlich einer statt linksrum wie befohlen rechtsrum machte. Der Anschiss: Du "Oberblödmann". Weil wir uns alle von der Schule her kannten und verstanden, zudem keiner Schwächen zeigen wollte - ich auch nicht-, haben wir das ohne zu murren und ohne bleibende seelische Wunden überstanden. Bei heutigen Klassentreffen werden nur die guten Erinnerungen ausgetauscht.
Unsere eigentliche Aufgabe als Flakhelfer bestand darin, die Flakgeschütze zu bedienen, also im Ernstfall damit auf feindliche Flieger zielen und diese abschießen.
So sollte das rüstungswichtige Südwestfälischen Eisen- und Stahlwerk in Siegen-Geisweid vor feindlichem Bombenabwurf geschützt werden. Doch diese Fliegerabwehr - Planung hatte einen doppelten Haken:
Die feindlichen Bomber flogen für unsere Geschütze zu hoch, wie ich einmal selbst an einem hellen und klaren Januar- oder Februarmorgen erlebt habe. Sirenengeheul hatte feindliche Fliegerverbände angekündigt, die in 6.000 - 7000 m Höhe über uns flogen. Wir Flakhelfer rannten sofort nach dem Fliegeralarm in die Flakstellunng, wo die Geschütze standen, machten diese Abschuß bereit, so dass wir auf die anfliegenden britischen und amerikanischen Bomber, die sog. "Fliegenden Festungen" schießen konnten.
Doch unsere Flakgeschütze, Vierlinge mit 2 cm Kaliber, schossen bei Weitem nicht so hoch wie die Bomber flogen. Darüber waren wir natürlich enttäuscht und fragten uns: Wofür dieser nutzlose Stellungsausbau? Wozu diese zur Fliegerabwehr untauglichen Geschütze weiterhin einsatzbereit halten? Doch solche Zweckmäßigkeits- Überlegungen werden beim Militär nur selten angestellt.
Auch wir Flakhelfer hatten über diese und dergleichen Fragen nicht zu entscheiden. Das Wichtigste für uns waren das "neue Leben mit Kanonen in Uniform" und dass wir nicht mehr die Schulbank drücken mussten, quasi ein Erwachsenenleben führen konnten.
Das merkten wir auch bei der Weihnachtsfeier. Als Weihnachtsgeschenke standen zur Wahl: Bier, Zigaretten und ein Buch. Da ich nicht rauchte, auch das Bier mir damals nicht schmeckte, entschied ich mich für Adolf Hitlers "Mein Kampf", seinerzeit das Buch der Bücher, signiert vom Oberleutnant u. Batt.-Führer der 6./ lei Flak=Abt(o)Schüttler. Ich wollte genau wissen, was der Führer mit dem deutschen Volk vorhatte.
Unmittelbar neben unserer Batteriestellung waren russische Kriegsgefangene untergebracht, mehr schlecht als recht. Sie mussten in dem nahe gelegenen Südwestfälischen Eisenwerk arbeiten, das wir mit unserer Flak vor feindlichen Bomben schützen sollten. Aber mit wenig Erfolg, wie schon oben angedeutet. Ein gezielter Fliegerangriff beschädigte das Werk erheblich und tötete mehrere russische Kriegsgefangene, die in einer noch halbwegs heil gebliebenen Werkshalle in einer Reihe dicht nebeneinander lagen. Da sah ich zum ersten Mal in meinem Leben tote Menschen.
Und noch etwas erlebte ich hier zum ersten Mal: Hungrige, nach Brot bettelnde Kriegsgefangene. Sie streckten ihre leeren Hände durch den Lagerzaum uns entgegen, um von uns ein Stück Brot oder sonst was Essbares zu erflehen. Keiner von uns hat sich ihrer erbarmt, auch ich nicht, was ich bis heute nicht vergessen kann; aber auch erst, nachdem ich selbst jahrelang Hunger ertragen oder erleiden musste. Mein damals mangelndes Mitgefühl mit den hungernden Gefangenen verrät, wie man erst durch eigenes Erleben reifer und vielleicht auch umsichtiger wird.
Unsere Wege trennten sich, als wir Jungen zum Kriegsdienst eingezogen wurden: Bruder Herbert 1942 zur Wehrmacht, Vetter Siegfried 1943 ebenfalls zu den Soldaten, während ich im Dezember 1943 von der Schule zunächst als Luftwaffenhelfer zur Flak nach Siegen-Geisweid musste, wovon ich oben schon erzählt habe.
Im März 1944 wurde ich und der gesamte Jahrgang 1926 von der Flak entlassen, um der Einberufung zum obligaten Arbeitsdienst folgen zu können. Weil ich am linken Bein eine kleine eitrige Entzündung hatte, konnte ich mich mit ärztlicher Hilfe davor drücken, allerdings mit dem unerwünschten Ergebnis, früher als meine Mitschüler und Kameraden als Soldat eingezogen zu werden.