Bilderbuch Ruppichteroth

Die letzten Tage vor der Gefangenschaft

vom 12.01.45 - 15.1.45
Nach diesem gedanklichen Intermezzo komme ich zurück nach Polen, wo ich mich  als Soldat die letzten Tage vor der Gefangenschaft aufgehalten habe Der "familiäre" Aufenthalt in Nova Hutta endete mit dem Beginn der russischen Großoffensive an der Weichsel in Richtung Berlin. Nach der mehrwöchigen Ruhe  vor dem Sturm begann  am  12.01.1945  der Rabatz, wie wir Landser sagten, wenn  russische Truppen  nach Trommelfeuer mit Panzern und Soldaten angriffen. Die Rote Armee hatte  im Herbst 1944, also vor dem Winter mehrere Brückenkopf auf der Westseite der Weichsel erkämpft, als Ausgangsstellung für die weitere Offensive auf Berlin, wie ich in einem Brief an die Eltern näher beschrieben hatte.Am Freitagabend des  12.Januar 1945 mussten wir unsere Sachen zusammen packen und  uns abmarschbereit halten. Zu den mitzunehmenden Habseligkeiten gehörten  Gasmaske und Stahlhelm,  Brotbeutel und Rucksack, zur feldmarschmäßigen Uniform das   Koppel mit gefüllten  Patronentaschen auf beiden Seiten; auf dem Koppelschloß stand:"Gott mit uns", wie schon im 1. Weltkrieg. Holterdipolter   mussten wir mit Sack und Pack auf LKWs klettern, die uns  während der Nacht an die  Front brachten.  Hier mussten wir, die beiden  VB - Männer (Vorgeschobener Beobachtungsposten) nach vorne in die vorderste Linie, während die Geschützbedienung 3-5-km hinter der Front die 10,5 cm  Geschütze in Stellung brachten.

Die letzte Nacht vor der Gefangenschaft

Am Sonntag, dem 14.1.45 kann ich mich noch insoweit erinnern, dass wir Soldaten im Schutz deutscher Panzer einen Gegenangriff nach vorne erfolgreich unternahmen. Dieser „Vormarsch“ oder Gegenangriff erwies sich anderntags als wenig nachhaltig. Denn die deutschen Panzer hatten sich in der Nacht wieder zurück gezogen, sodass die Infanteristen wie auch wir Panzergrenadiere vorne mit Karabiner oder Maschinengewehr praktisch mehr oder weniger schutzlos den schwer bewaffneten Rotarmisten gegenüber standen.

Am Abend schwiegen die Waffen auf beiden Seiten. Wir Landser an vorderster Front versuchten irgendwo und irgendwie für die Nacht unterzukommen. Jeder war da auf sich allein gestellt. Bei dieser „Quartierssuche“ fiel mir das letzte Exemplar der NS -Wochenzeitzung „ DAS REICH“ in die Hände. Der Leitartikel auf der erste Seite von Propagandaminister Goebbels mit der Überschrift „Das Antlitz des Führers“ enthielt ein seichtes und hohl klingendes Lob auf den Führer: In der Stunde drohender Niederlagen und Zweifel am Endsieg gebe ein Blick auf das Antlitz des Führers neue Hoffnung und neuen Siegeswillen im Existenzkampf . In diesem Sinne schwadronierte er über zwei Spalten, um den Zweifenden neuen Mut zu machen.

Mit solchen Nazi - Parolen sollten die Deutschen zum Durchhalten bis zum bitteren Ende ermuntert werden. Sieg oder Untergang für ganz Deutschland hieß die Losung. So kam es auch schließlich: Ganz Deutschland lag in Schutt und Asche, Menchen millionenfach gemordet oder getötet, auf beiden Seiten der Kriegsparteien. Solange Deutschland nicht bedingungslos kapituliert hatte, konnte und mochte ich das nicht für möglich halten, dass Hitler ausschließlich für sich und seine Clique Deutschland opfern würde bis zum totalen Untergang.

Eigentlich hätte ich es wissen müssen, denn auf den feindlichen Flugblätter, die ich so eifrig gesammelt hatte, war es zu lesen, immer und immer wieder. "Wofür kämpft Deutschland" oder: "Nach Hitlers Sturz" titelten die Flugblätter mit dem Zusatz: "Gerechte Strafe für deutsche Verbrecher". Doch das hielt ich für feindliche Propaganda, die ja auch in ihrem Sinne die Deutschen beeinflussen wollten, um schneller und möglichst ohne oder mit weniger Verlusten zum endgültigen Sieg über Deutschland zu kommen.

Nachdem ich den Goebbels-Leitartikel verdaut und vergessen hatte, dachte ich wieder an meine „Quartierssuche“ für die kommende Nacht. Ich fand schließlich in einem offenen Schützengraben mein Nachtlager, das ich mit einem älteren und kampferprobten Landser teilte. Er machte mir wenig Mut, eher richtig angst und bange, was uns morgen erwarten würde: „Dir - so sagte er zu mir - wird morgen der Arsch wie eine Kreissäge gehen“. Nicht ermutigend für einen jungen, unerfahrenen Frontkämpfer wie mich.

Die ganze Nacht über feuerten die Rotarmisten Leuchtmunition in den Himmel, so dass die Landschaft taghell erleuchtet war. Ich fragte mich, was wird da morgen auf dich zukommen? Wie kommst du aus diesem Schlamassel? Vorne wie hinten kein Ausweg in Sicht? Was ich in dieser Nacht, der letzten vor der Gefangenschaft sonst noch alles gedacht habe, daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich überlegt, zu desertieren, was meiner inneren Überzeugung entsprach. Aber dazu fehlte mir der Mut. Ein Deserteur, der aus Reih` und Glied hinaus tritt, hat mehr Mut als der zwar zweifelnde Soldat, der aber in der Herde unauffällig mit trottet. Mutlos bin ich mit getrottet bis es nicht mehr weiter ging.

Ich fand in einem verlassenen halb offenen Erdunterstand eine Sitz-oder Hockgelegenheit. An Schlafen war nicht zu denken. Kurz vor der Morgendämmerung veranstalteten die Rote Armee ein Trommelfeuer auf unsere Stellungen. Kaum war der letzte Kanonendonner verhallt, da fuhren russische Panzer – T 34- auf uns zu und überrollten unsere Kampflinie. Im Schutz dieser Panzer stürmten Rotarmisten vor, schossen gleichzeitig mit ihren Schnellfeuerwaffen auf die zurück flüchtenden deutschen Soldaten. Die Maschinengewehrgarben, mit Leuchtmunition versetzt und daher sichtbar, mähten die zurück laufenden Deutschen wie mit einer Sense nieder.

Die ersten Tage in Gefangenschaft

Dieser Anblick schreckte mich derart ab, nicht mit zurückzulaufen. Meines Erachtens eine Flucht in den sicheren Tod. Statt dessen schlichen oder krochen ich und mein Kumpel im Schützengraben ziellos hin und her. Instinktiv oder reflexartig versuchte ich, irgendwie lebend aus dem Schlamassel rauszukommen. Aber wie? Kann man in Todesängsten überhaupt planend überlegen?

Vorher hatten wir unsere Funkgeräte, die wir wie Rucksäcke trugen sowie auch Karabiner und Stahlhelm weggeworfen, um uns leichter bewegen und verstecken zu können. Mein Kumpel feuerte mit seinem Karabiner noch einige Schüsse in sein Gerät, um es für den Gegner unbrauchbar zu machen. Allgemeiner Befehl von Oben: Auf dem Rückzug ist alles zu zerstören, was dem Feind nützen könnte. Prinzip der verbrannten Erde.

Die meisten deutschen Soldaten glaubten trotz hoffnungsloser Kriegssituation noch an einen deutschen Sieg oder fühlten sich nach wie vor an ihren Eid auf den Führer verpflichtet. Das habe ich nicht getan. Im Gegenteil, ich sah mich von unserem "Führer" und seiner Clique verraten und verkauft. Nur für deren längeres Überleben sollten wir Soldaten wie auch das übrige deutsche Volk bis zum bitteren Ende durchhalten und verbluten.

Mein Schwur auf den Führer war, wie schon erwähnt, sicherlich ein "Meineid", sodass ich mich nicht im Gerinsten daran gebunden fühlte. Andererseits hatte auch ich trotz meiner kritischen Einstellung gegenüber der Nazipropaganda große Angst vor russischer Gefangenschaft. Darüber hatte die Nazi- und Goebbelspropaganda gruselige und grausame Geschichten verbreitet und damit Furcht vor den Rotarmisten geschürt, um den Verteidungswillen der deutschen Soldaten bis zum Äußersten und Letzten anzustacheln.

  • Was wird uns in Gefangenschaft passieren ?
  • Was werden die Rotarmisten mit uns anstellen?
  • Werden sie uns foltern oder sofort umlegen?


Solche und ähnliche gruselige Gedanken gingen uns durch den Kopf. Die Furcht vor dieser Ungewissheit und des Bedrohtseins schaltet jedes vernünftige und bedachtes Denken und Handeln aus. Wer denkt schon im Voraus an Gefangenschaft und wie man sich da am besten verhält? Eigentlich zu kurz gedacht. Denn in der so aussichtslosen Lage der deutschen Soldaten gegenüber einer weit überlegenen Kampf- und Feuerkraft des Gegeners gab es praktisch nur die Wahl zwischen Tod oder Gefangenschaft. Doch an dieses alternativlose Dilemma wollte keiner denken, jedenfalls nicht im voraus.

Ich weiß noch, um unser Leben zu retten, sind wir -wie oben erzählt- in einem Schützengraben ziellos hin und her gekrochen, an und über tote(n) Kameraden vorbei, ohne jegliches Mitgefühl. An gegenseitiges Helfen war sowieso nicht zu denken. Todesängste lassen solche Gedanken oder mitmenschliche Gefühle nicht aufkommen oder man unterdrückt sie unbewusst. Brutales und inhumanes Verhalten wird den Soldaten eingeimpft, indem sie darin ausgebildet werden, den feindlichen Menschen zu töten oder zu überwältigen

GOTT MIT UNS

Selbst gottesfürchtige Kirchenführer haben den Krieg mit all seinen makaberen und brutalen Auswüchsen toleriert, wenn nicht sogar abgesegnet. Kurz nach meiner Konfirmation im April 1941 segnete unser Pastor in Ruppichteroth beim deutschen Überfall auf Rußland im Juni 1941 die Waffen der Deutschen Wehrmacht. Sicherlich entsprach dies einer allgemeinen Weisung der Evangelischen Kirchenleitung. Die offizielle Katholische Kirche hat sich genau "patriotisch" verhalten, wie das damalige Sonntagswort des Bischofs von Münster Graf von Gahlen zeigte. Jeder deutsche Soldat trug auf seinem Koppelschloß als Emblem: GOTT MIT UNS

Die letzten Minuten vor und die ersten Minuten in der Gefangenschaft.

Zurück zu den letzten Minuten oder Sekunden vor der Gefangenschaft. Die Rotarmisten kämmten die Schützengräben nach deutschen Soldaten ab, bis auch wir oder ich in den Lauf einer russischen Kalaschnikow gucken musste. „Rucki Wech“ = Händ Hoch - schrie mich ein Rotarmist an. Das war der erste Befehl eines russischen Soldaten, dem ich alternativlos ausgeliefert war. Mein Gewehr und meinen Stahlhelm hatte ich schon vorher weggeworfen, die fünf Schuß im Karabinermagazin ziellos abgefeuert. Zu aller erst fahndeten die Rotarmisten nach Uhren und sonstigem bunten Kram. So z.B. hatte ich als Funker noch einige bunt melierte Bleistifte in der Rocktasche. Darüber konnte sich ein Rotarmist freuen. Doch in erster Linie sahen die russischen Soldaten nach Armbanduhren, auf die sie scharf waren. Da ich eine Taschenuhr bei mir hatte, behielt ich diese verhältnismäßig lange, bis ein Rotarmist meinen Anorak, so nennt man das heutzutage, aufknöpfte und die silberne Uhrkette sah. Er schlug heftig in die baumelnde Uhrkette, so dass meine Uhr aus dem Uhrtäschchen flog, die Kette aber zunächst hängen blieb. Doch die eigentlich schlimmste Schrecksekunde erlebte ich, als ein Rotarmist seine Pistole mir in den Nacken drückte. Da fiel mir das Herz in die Hose! Jeden Augenblick musste ich befürchten, dass er abdrückte. Doch er tat es nicht, sondern: Er stellte sich vor mich und sagte: „Nix puch, puch Kamerad“ und lachte mich dabei an. Puch, puch bedeutet zu deutsch soviel: wie „peng, peng“ . Na, fürs erste war ich mit dem Leben davon gekommen.